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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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ausgeführt.
    Sie bewundert die saubere Linienführung. In ihrem chinesischen Dorf wird es Häuser geben, Brücken mit zierlichen, handgesägten Geländern, eine zinnoberrote Pagode und ein Observatorium. Chambers schwärmt von Gitterzäunen mit nur einem Stützpfosten, preist die Wichtigkeit der Symmetrie. Er zeigt ihr Entwürfe von Tempeln und Gartenpavillons, zu denen verschiedenste Wege führen. Er rühmt die Vorteile von einladenden Gartenbänken, die dem Besucher am Ende eines langen Spaziergangs Erholung bieten. Von Vergnügungsorten, Palisaden und raffiniertem Gitterwerk. Oktogone, sagt er, bemalte Paneele. Muster, in denen sich Chinesisches mit Gotischem mischt.
    Welch ein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie eine Idee Gestalt annimmt!
    Â»Künstliche Hügel und lackiertes Holz ergeben ein harmonisches Bild, Madame«, fährt Chambers fort, seine Stimme klingt leidenschaftlich. »Chinesische Gärtner planen, ohne die einzelnen Teile einander zuzuordnen. Sie haben eine andere Art von Schönheitssinn. Einen asymmetrischen.«
    Warum sind sie nur so selten, denkt sie, diese Momente. In denen man etwas hört, das neu und faszinierend ist. Sie hätte solche Gespräche zur Vorschrift machen sollen, zu einem kaiserlichen Ukas: Du sollst deinen Herrscher nicht langweilen.
    Â»So etwas wird scharawaggi genannt«, sagt Chambers weiter. »Ein chinesisches Wort für die Fähigkeit, sich von anmutiger Unordnung in Erstaunen versetzen zu lassen.«
    Reisende, die bei ihrer Rückkehr aus China an ihren Hof gelangten, erzählten ihr vom kaiserlichen Palast, der sich über eine Fläche erstrecke, auf der leicht eine ganze Stadt Platz gehabt hätte; sie erzählten von dessen Verzierungen, die nicht so sehr wegen der kostbaren Materialien bezaubern, sondern vielmehr wegen der hohen Kunstfertigkeit in der Ausführung.
    Die Frauen, berichteten die Reisenden, lebten dort in völliger Abgeschiedenheit. Viele Ehefrauen würden um die Aufmerksamkeit ihres gemeinsamen Ehemanns buhlen und allerlei ersinnen, um sie – um jeden Preis – zu erlangen. Eine Konkubine habe ihren eigenen Sohn erstickt, um dann den Verdacht auf die erste Frau des Kaisers zu lenken. Sie sei auch erfolgreich gewesen, denn wer würde einer Mutter zutrauen, ihr eigenes Kind zu opfern?
    Ein Bild von Paul, wie er schnaubend seinen Unmut über irgendetwas äußert, erscheint vor ihrem inneren Auge, während sie sich über die Zeichnungen beugt.
    Â»Ich bitte Sie, Majestät, sehen Sie es sich genauer an«, sagt Chambers. Er tänzelt, während er spricht, ruckt mit dem Kopf wie ein Vogel auf der Suche nach Würmern. Er hat eine hübsche Pagode mit Drachen gezeichnet. Mit Glöckchen in ihren Mäulern! Seine Zeichnungen seien, betont er, keine amüsanten Parodien chinesischer Gebäude, wie andere Architekten sie haufenweise herstellen, sondern echte stilistische Nachbildungen. Frei, aber akkurat. Er baue kein bestimmtes Gebäude nach, erklärt er ihr lebhaft, sondern erfasse den Geist von vielen. Er
möchte, dass sie die anmutige Unordnung der Umgebung dieser Pagoden registriert.
    Â»Gärten sollten sich von der Natur unterscheiden«, sagt Chambers, »so wie ein Heldengedicht sich von Prosa unterscheidet. Ohne die Hilfe der Kunst kann die Natur keine Freude spenden.«
    Das wird teuer, denkt sie, als der Architekt, hocherfreut, weil sein erweitertes Budget wieder genehmigt worden ist, sich verabschiedet hat. Doch alles, was schön und bedeutend ist, hat seinen Preis. Chinoiserien sind jetzt überall in Mode. Da kann Russland nicht zurückstehen. Sie möchte nicht hören, sie habe eine Neigung fürs weniger Bedeutende, fürs Zweitrangige.
    Â 
    Anjetschka kommt zurück, erwähnt aber nicht die Ehrendamen und ihr Anliegen. Sie scheinen sich fürs Erste in ihr Schicksal gefügt zu haben. Eine kleine Freude, aber willkommen! Doch ihre Zofe hat andere ärgerliche Nachrichten.
    Der kleine Salon, in dem die Kaiserin nachmittags gerne liest, wimmelt von Fliegen.
    Die Kammermädchen hätten die Fenster offen gelassen, erklärt Anjetschka. Sie ist ganz erhitzt vor Ärger. Inkompetenz, Faulheit, mangelnde Voraussicht bringen sie in Rage. In Anjetschkas Welt sind das bereits Verbrechen.
    Â»Ich möchte es selbst sehen«, sagt Katharina. Es muss die Leichtigkeit ihres Beins sein, die sie auf die Idee bringt,

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