Die Zarin der Nacht
sich in den Salon zu begeben. Es wimmelt ist zwar eine Ãbertreibung, aber es gibt tatsächlich Fliegen dort. Wild summend schwirren sie umher, ärgerlich nah.
Sotow, um Hilfe gebeten, marschiert im Zimmer auf und ab. Er verachtet zusammengerollte Zeitungen oder Pantoffeln und baut stattdessen Fliegenklatschen aus einem Holzstock und steifem Bastelpapier. Er ist schnell und anmutig, kann eine Fliege im Flug totschlagen, aber die meisten erwischt er am inzwi
schen geschlossenen Fenster, wenn sie gegen die unsichtbare Barriere knallen, die sie von dort abschneidet, wo sie hergekommen sind.
Empört zieht Anjetschka los und schimpft die törichten Kammermädchen aus, die noch Stunden danach mit beleidigten Gesichtern herumlaufen und jedem unbedingt die Ungerechtigkeit ihres Schicksals darlegen wollen.
Noch ein Schlag, und die Letzte der unwillkommenen Gäste liegt leblos auf dem Boden. Sotow sammelt alle auf und schlägt sie in sein kariertes Taschentuch ein.
»Jetzt können Majestät in Frieden lesen«, verkündet er.
In diesem Palast, in dem der Tod die Ränge so unbarmherzig gelichtet hat, ist Sotow ein weiterer tröstlicher Anblick. Er wurde im Palast geboren, als Sohn eines Kammerdieners, und hat nie woanders gelebt. Zur Zeit des Staatsstreichs war er, wenn sie sich recht erinnert, nicht älter als zehn. Sie weià noch, wie er hinter seinem Vater herlief und, vollkommen vertieft in seine wichtige Aufgabe, ihren Fächer trug.
»Ich habe im Garten eine Katze gesehen, die aussah wie Puschok«, erzählt sie Sotow. »Mit demselben weiÃen Fell, demselben Knick im Schwanz. Aber Puschok ist doch längst tot, oder?«
»Tot und begraben«, bestätigt Sotow. »Als die Herrin noch bei uns war.«
Die Herrin ist Kaiserin Elisabeth, für die Sotow groÃe Verehrung hegt.
Sie unterhalten sich über die Nachkommen von Elisabeths Lieblingskatzen Puschok, Murka und Bronja, die in den Kellern und auf den Hintertreppen umherspazieren und auf dem Dachboden schlafen, seit die kaiserlichen Hunde den Palast in Besitz genommen haben.
»Ganze Schwadronen von Katzen«, sagt Sotow. »Kolonien.«
Sie fressen, was sie auftreiben können. Vor Menschen haben sie Angst.
Sotow blickt sie prüfend an, versucht den Grad ihres Interes
ses an seinen Geschichten einzuschätzen. Sobald er eine Spur von Ungeduld bemerkt, hört er auf. Ein perfekter Diener. Aufmerksam. Unersetzlich.
Sie nickt, um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern.
Es amüsiert sie, dass in ihrem Palast unsichtbare Kriege geführt werden. Katzen aus dem Keller bekämpfen die vom Dachboden. Wehe dem Tier, das auÃerhalb seines Territoriums herumstreunt und nicht schnell genug ist. Im Weinkeller stoÃen die Mundschenk-Pagen häufig auf die Verwundeten. Wenn sie es nicht schaffen, verraten die verwesenden Kadaver ihr letztes Versteck.
Die Bediensteten des Palasts, erzählt Sotow ihr, haben ein langes Gedächtnis. Sie können sich noch an die Zeiten erinnern, als kaiserliche Katzen Samtjäckchen trugen und sich an gebratenen Hühnerbrüsten labten. »Wie sind die Mächtigen nur gefallen«, sagen sie jetzt, wenn die Katzen bei ihrem Anblick davonstieben. Die Knaben jagen sie. Katzen, die nicht schnell genug sind, enden mit einem brennenden Schwanz. Oder ihr Kopf wird in einen Sack gesteckt, sodass sie blind in der Gegend umherirren.
Sotow macht eine kurze Pause, überlegt, wie klug es ist, noch mehr zu erzählen, und entscheidet sich dagegen.
Sie ist dankbar. Sie möchte nichts von ausgerissenen Augen oder lebendig gehäuteten Katzen hören, deren Skalp angeblich gegen irgendwelche Wehwehchen hilft. »Ich habe etwas für dich«, sagt sie. »Madame von Lieven schwört, dass Alexandrine jede Nacht wächst. Am Morgen ist sie dann mehr als zwei Zentimeter gröÃer.«
Die GroÃfürstinnen brauchen jede Woche neue Schuhe und sechzehn Dutzend Paar Handschuhe im Jahr. Sie besitzen einen reichlichen Vorrat an Puder, Schönheitspflastern, Bändern, Kämmen und Spannrahmen für ihre Seidenstickerei. Im Sommer bekommt jede von ihnen drei geblümte Umhänge, drei einfarbige oder gestreifte Seidenkleider und ein Nachthemd. Ma
dame von Lieven, die Chefgouvernante aller GroÃfürstinnen des kaiserlichen Hofstaats, ist angewiesen worden, einen Koffer mit Kleidungsstücken zum Verschenken vorzubereiten.
»Bring deine Töchter heute
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