Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
einschlafen. Maman wird ihre Zukunft zerstören mit ihrer Klatschsucht und ihrem Egoismus, mit ihrer ungezügelten Gier nach Lust.
    Wenn Sophie sie jetzt nicht aufhält, werden sie beide in Ungnade nach Zerbst zurückgeschickt werden.
    Sie steht auf und tritt ans Fenster. Die Bodendielen unter ihren nackten Füßen sind eisig kalt. Der Mond beleuchtet die Straße. Hoch türmt sich der Schnee auf beiden Seiten. Ein Schlitten fährt vorbei, die Glöckchen am Geschirr des Zugpferds klingeln. Die Kaiserin wird noch mindestens drei Wochen weg sein. Die Kaiserin, die ihr den Kokoschnik aufgesetzt und sie »mein geliebtes Mondmädchen, meine Hoffnung« genannt hat.
    Sie geht im Geist die verschiedenen Möglichkeiten durch. Auf welche Gefühle kann sie zählen? Eifersucht? Besitztrieb? Stolz?
    Würde die Kaiserin zurückkommen, um ein sterbendes Mädchen zu retten?
    Â 
    Sa tschem pojdjosch, to i najdjosch. Wer sucht, der findet.
    Â 
    Die Lippen trocknen aus und werden rissig, wenn man immer durch den Mund atmet. Sie kann die Wangen reiben und kneifen, sodass sie fiebrig rot werden. Aber nützt es etwas, wenn sie krank aussieht? Eine einfache Erkältung würde helfen. Eine triefende Nase, gerötete Augen, eine heisere Stimme.
    Sie überlegt kurz, ob sie das Fenster öffnen soll, aber es ist festgefroren. Und wenn sie zu heftig daran rüttelt, wird es vielleicht der Wachposten der Garde hören. Ihr Blick fällt auf die Vase mit den Orchideen. Sie hebt sie hoch. Die faulen Kammermädchen haben das Wasser nicht gewechselt. Es riecht modrig.
    Sie nimmt einen bitteren Schluck und dann noch einen. Schleimige Fasern kleben an ihrer Zunge und an den Zähnen. Sie würgt, aber sie hält den Atem an und schluckt. Der menschliche Wille, so hat ihre Gouvernante Babette ihr beigebracht, ist stärker als alle animalischen Instinkte. Der Wille eröffnet der Menschheit den Zugang zum wahren Heil. Die Vernunft überwindet alle Gefühlsregungen, die uns vom rechten Weg abbringen wollen.
    Ein Magen kann stinkendes Wasser und schleimige, faulige Überreste von Blumenstängeln bei sich behalten. Länger, als sie für möglich gehalten hat. So lange wie nötig.
    Â 
    Â»Kein Aderlass«, sagt Maman in scharfem Ton.
    Der Doktor hebt die dichten grauen Augenbrauen.
    Â»Aber warum?«, fragt er. Seine Stimme ist ganz ruhig. Er betont noch einmal, dass das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederhergestellt werden muss. Ihre Hoheit wird doch sicher die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nicht in Frage stellen wollen?
    Â»Kein Aderlass«, wiederholt Maman. Ihr eigener Bruder kam nach Russland, um zu heiraten. Er wurde krank, man ließ ihn zur Ader, und er starb.
    So war es, und dasselbe kann wieder passieren.
    Der Doktor verdreht die Augen. »Weibliche Logik«, sagt er so leise, dass es nur die Personen hören, die direkt neben ihm stehen. Aber er ist auf solche Widrigkeiten vorbereitet. »Ohne Aderlass wird die Prinzessin sterben«, erklärt er mit fester Stimme.
    Â»Kein Aderlass«, schreit Maman. »Ich lasse nicht zu, dass Sie mein Kind umbringen.«
    Die seidenen Kissen sind mit Erbrochenem besudelt. Die Mädchen müssen andauernd den Nachttopf leeren. Sie verziehen ihre blassen Gesichter. Vor Ekel oder vor Furcht?
    Â»Schau mich an, Sophie«, befiehlt Maman, die ihre Sorge mittlerweile nicht mehr verbergen kann. Bei anderer Gelegenheit hätte es ihre Tochter gefreut, sie so verwundbar zu sehen.
    Ihr Magen brennt. Im Mund hat sie den schleimigen Geschmack des Blumenwassers. Er verschwindet nicht, auch wenn sie sich noch so oft erbricht. Wenn sie versucht, sich aufzusetzen, wird ihr so schwindlig, dass sie die Augen geschlossen halten muss.
    Der Hofmedicus legt seine Hand auf ihre Stirn und schüttelt den Kopf. Er sieht den Chevalier an. Wie kann die Fürstin nur so verblendet sein? Es wird Zeit, dass man ihr die Zügel aus der Hand nimmt, oder nicht?
    Maman war immer schon eigensinnig. Aber Papa verstand es, sie zu lenken. Chevalier Bezkoy macht einen Fehler nach dem anderen. Er erwidert den Blick des Arztes, verzieht mürrisch den Mund. »Vielleicht sollten wir Ihre Majestät verständigen, bevor es zu spät ist«, sagt er.
    Vom Hof her hallen Befehle und schrille Schreie. Ein Schwein quiekt. Die Kerzen neben ihrem Bett flackern, Absätze scharren auf dem Boden, Schatten tanzen an der Wand.

Weitere Kostenlose Bücher