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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Charme besser zur Geltung bringen kann. Sollte
sie Besborodko ins Verhandlungszimmer schicken? Es würde ihm sehr gefallen, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, den jungen Leuten zu zeigen, was ihnen noch alles fehlt. Es ist allerdings nur eine flüchtige Versuchung. Sie ist viel zu erfahren, um der Ungeduld nachzugeben. Zu früh ihre Karten aufzudecken. Wenn die Schweden merken, dass Platon seine Kompetenzen überschritten hat, wird das am Ende gegen sie verwendet werden. So ist es immer.
    Die Glocken? Schon? Die Eule rührt sich wieder. Die Blumen, die in Wirklichkeit kleine Hämmer sind, bewegen sich und produzieren eine Reihe sanfter Töne.
    Sie erinnert sich, dass sie sich als Kind einmal erschrocken hat, als die Zeiger einer Uhr zurückgedreht wurden. Weil sie glaubte, die Welt würde zu einer endlosen Wiederholung dessen werden, was schon gewesen ist. Nun da sie älter ist, wünschte sie, es wäre so. Was würde sie darum geben, noch einmal erleben zu können, was schon vorbei ist. Den Verräter zu kennen, der einen verraten wird.
    Acht Uhr.
    Die Verzögerung, was immer ihr Grund sein mag, macht dem Kind schwer zu schaffen. Alexandrine sieht aus wie ein weißer Falter, der mitten im Flug in der Luft hängen geblieben ist. Betet sie? Oder sinnt sie über die Küsse, die zärtlichen Liebkosungen durch die Hände ihres Liebsten nach?
    Oder gibt sie wieder sich selbst die Schuld, das dumme Mädchen? Irgendeine eingebildete Sünde? Ein unverhältnismäßig aufgeblähtes lächerliches Fehlverhalten?
    Ich werde dich beschützen. Ich werde dafür sorgen, dass man dich nicht übersieht.
    Â 
    Um kurz vor neun gibt sie Anjetschka ein Zeichen und befiehlt ihr, den Grund für die Verzögerung der Zeremonie zu erkunden. Anjetschka eilt aus dem Sankt-Georg-Saal, so schnell ihre massige Gestalt es zulässt. Ihr Gehen bleibt nicht unbemerkt.
Angespanntes Geflüster bricht aus, als die Höflinge ihr Platz machen.
    Die mechanische Musik der Uhr ist noch nicht verklungen, als Anjetschka zurückkehrt. Sie wirkt aufgeregt und beunruhigt.
    Â»Es gibt eine leichte Meinungsverschiedenheit, Madame«, flüstert sie. »Platon Alexandrowitsch sagt, es dauert nicht mehr lange.«
    Paul beugt sich vor, um besser zu hören. Maria Fjodorowna hebt die Hand, als wolle sie sich bekreuzigen. Alexander wirft seiner Großmutter einen fragenden Blick zu.
    Â»Ich habe laute Stimmen gehört, Madame«, schnauft Anjetschka.
    Das Kind blickt ratlos von einem zum anderen, versucht zu verstehen, was womöglich passiert ist. Doch dann schwingen die Türen auf, und ihr entschlüpft ein Seufzer der Erleichterung. Die Höflinge erstarren zu Statuen und blicken allesamt zur Tür. Das Orchester beginnt zu spielen, hört aber sofort wieder auf.
    Denn nur eine Person betritt den Saal. Es ist Graf Morkow. Er nähert sich dem Thron, steigt die Stufen zur Plattform hinauf. Eine Aura dunkler Genugtuung umweht ihn. Eine Warnung, die auf taube Ohren stieß, wurde bestätigt. Eine düstere Vorhersage gerechtfertigt.
    Sie braucht einen Moment, um die Worte, die Morkow ihr ins Ohr flüstert, zu verstehen: »Der König protestiert. Er sagt, man vertraue ihm nicht. Er fragt, wieso er die Absichtserklärung überhaupt unterschreiben soll.«
    Â 
    Während der nächsten Stunde eilen Boten hin und her, Beteuerungen prallen aneinander ab, das Durcheinander wächst, das Misstrauen auch.
    Der König sagt, er habe sein Wort doch schon gegeben. Wieso reicht es plötzlich nicht mehr?
    Wieso muss er das Versprechen, sein Wort zu halten, unterzeichnen? Er ist ein Ehrenmann. Er wird nicht hinter das zurückfallen, was er versprochen hat.
    Reicht das nicht? Vertraut man ihm also nicht?
    Sollte er vielleicht im Gegenzug dasselbe von der Kaiserin verlangen?
    Alexandrines Augen werden immer größer, stumme Fragen stehen darin. Man wird sich um sie kümmern, sie aus diesem Raum entfernen müssen. Krähen werden über dem Aas kreisen. Das Kind muss vor neugierigen Blicken geschützt werden.
    Ihre Enkeltochter tut ihr leid, doch eine frühe Enttäuschung ist schließlich besser als eine zu späte, nicht wahr? Man kappe die Bande, solange sie noch schwach sind. Sie wird es Alexandrine später erklären. Im Augenblick muss sie sich um das Desaster kümmern.
    Ihre Lippen sind ausgetrocknet. Sie hat Durst, aber ihr Durst wird

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