Die Zarin der Nacht
Höflichkeiten mit ihm austauschen, aber plötzlich ist ihr das zu viel. Es ist so viel einfacher, mit den jungen Leuten zu reden. Sie sehnt sich jetzt nur noch nach deren Ãberschwang, jener hoffnungsfrohen Zuversicht.
»Ich möchte allein mit Alexandrine sprechen«, sagt sie.
Paul zögert. Bevor er sich zu seinem nächsten Schritt entschlieÃen oder eines seiner schnaubenden Geräusche von sich geben kann, nimmt sie Alexandrines Hand und führt ihre Enkeltochter in ihr Umkleidezimmer.
Alexandrine tritt vor den Spiegel, um ihren neuen Schmuck zu bewundern. »Was für eine wunderschöne Färbung, Grandmaman!«, ruft sie. Doch dann dreht sie sich um und fragt mit kindlichem Lispeln: »Kann ich von dort, wo ich sitze, die Pfauenuhr sehen?«
»Auf jeden Fall. Wieso durfte die Zofe kein Rouge auf deine Wangen auftragen, chérie ?«, fragt sie.
Das Gesicht ihrer Enkelin sieht blass aus.
»Gott hat mich so gewollt, wie ich bin, Grandmaman.«
»Gott hat gewollt, dass du so hübsch wie möglich aussiehst, mein dummes Mädchen«, sagt sie und öffnet eine Dose mit Rouge. »Nur einen Hauch Farbe«, fährt sie fort und tupft Rouge auf Alexandrines glatte Haut. »Siehst du«, sagt sie und zeigt auf ihr Spiegelbild. »Ist doch viel schöner so, nicht wahr?«
Â
Der Geruch der schmelzenden Kerzen, die den Sankt-Georg-Saal beleuchten, mischt sich mit dem schweren Duft all der vielen Parfüms. Es ist ein imposanter Saal mit einer Decke, die von weiÃen, grauen, blassroten und blauen Marmorsäulen getragen wird. Der Thron steht auf einem erhöhten Podest. Katharina trägt ihre Krone, die sorgfältig poliert wurde, nachdem Wischka etwas Wachs von der Kerze getropft ist. Ein schwerer Hermelinumhang liegt um ihre Schultern, das Zepter hält sie fest in der Hand. Ãber ihr wölbt sich ein Baldachin mit dem doppelköpfigen russischen Adler, und hinter ihr hängt ein Schild mit ihren Initialen, C II ., Katharina die Zweite, Kaiserin des russischen Reichs. Aufgereiht an den Wänden stehen die Kaiserlichen Garden in Habachtstellung, ihre blauen Uniformen blutrot abgesetzt.
Lew Naryschkin flüstert dem österreichischen Gesandten etwas zu; der nickt heftig und verbeiÃt sich das Lachen.
Paul sitzt rechts von ihr, Alexander links. Zu ihren FüÃen, auf einem niedrigen Hocker, Alexandrine mit gefalteten Händen. »Wirst du weiter nach Bolik suchen, Grandmaman?«, hat das Kind gefragt. »Auch wenn ich in Stockholm bin?«
Und bei alledem ist Katharina dennoch innerlich aufgebracht, zornig. Hat sie denn niemanden mehr um sich, der noch bei Verstand ist? Gibt es niemanden mehr, dem sie auch nur die einfachsten Aufgaben anvertrauen kann? »Traust du mir nicht einmal das zu?«, hat Le Noiraud sie gefragt.
In wenigen Minuten wird die Verlobungszeremonie beginnen. Der Erzbischof wird seinen Segen spenden. Sie wird ihre Rede halten, die Eltern werden das junge Paar segnen, und dann â endlich â die ersehnte Pause. Sobald der Empfang beginnt, wird Katharina Besborodko bitten, die Verhandlungen zu übernehmen. Sie will keine Verzögerungen, keine Ãberraschungen mehr.
Die Pfauenuhr kommt in Bewegung. Zu ihren FüÃen beugt Alexandrine sich vor, um besser zu sehen.
Was ist sie manchmal noch für ein Kind, denkt Katharina, doch auch sie ist fasziniert von dem Spektakel.
Zuerst läuten die Glöckchen auf dem Käfig der Eule. Dann beginnen die Eule, der goldene Pfau, die Krähe und der Gockel ihre feierlichen Tänze. Die Vögel der Weisheit, der Vogel der Auferstehung und der Vogel der Einheit dessen, was existiert und was untergegangen ist. »Du wirst immer an mich denken, wenn du die Uhr siehst«, hatte Grischenka gesagt, als er sie ihr zum ersten Mal zeigte, fünfzehn Jahre ist es nun her. Feixend vor Stolz, ein Zauberer, der sein neuestes Kunststück vorführt. Aber er ist nicht mehr da, und kein Zauberkunststück kann ihn zurückbringen.
Die Vögel erstarren, sobald ihr Tanz beendet ist.
Es ist sieben Uhr.
Zu ihrer Rechten streckt Paul seine Brust vor und zieht die Luft mit einem schwachen, pfeifenden Geräusch durch die Nase ein. Ihr Sohn, der sich immer noch für ihren Erben hält. Wer nach dem Thron strebt, sollte zuerst mit seinen Konkurrenten darum kämpfen. Auch im Tierreich kämpfen die Jungen um ihren Platz. Die Mutter hat nur eine bestimmte
Weitere Kostenlose Bücher