Die Zarin der Nacht
stammt aus Schottland, ein Melancholiker und Pessimist, der ihr einmal gesagt hat, die Schotten könnten einander nicht ausstehen. Er hat dichtes rötliches Haar, das an das Fell eines frisch geschorenen Schafs erinnert. Er ist pockennarbig und hat dicke Tränensäcke unter den Augen.
Was wird er feststellen?
Eine ungewöhnliche heftige Migräne?
Gift? Vielleicht Aqua Tofana?
Diese Fragen beschäftigen sie, aber sie quälen oder bedrücken sie nicht besonders. Der Schmerz ebbt jetzt ab, und sie wird ganz ruhig und gelassen. Mit geschlossenen Augen schwebt sie lange über sumpfigem Land, wo grüne Frösche im Schilf quaken. Man nennt sie laguschki , denkt sie.
Â
9.35 Uhr
»Nein, Adrian Mosejewitsch!«, schreit Wischka. »Sie dürfen uns nicht alleinlassen. Nicht einen Moment lang.«
Â
Gribowski ist mein Sekretär. Ein guter Mann, vertrauenswürdig und zuverlässig. Grischenka hat ihn ausgesucht. Wovor hat Wischka Angst?
Â
Wischka spricht so schnell, dass die Kaiserin nicht alles verstehen kann. »Bitte, Anna Stepanowna, sagen Sie dem Doktor, dass Ihre Majestät ohnmächtig geworden ist ⦠aber nicht mehr.«
Schritte. Die Tür geht auf und wieder zu. DrauÃen heult ein Hund, aber es ist nur gedämpft zu hören.
Die Angst in Wischkas Stimme breitet sich aus wie Nebel über einer Landschaft. Sie hängt im Raum, nimmt allen die Sicht, nicht nur Wischka.
Der Anblick ihres leblosen Körpers ist das, was ihr Angst macht. Und dass sie die Lippen nicht bewegen kann.
Eine Quelle kann versiegen, aber das muss nicht bedeuten, dass sie ausgetrocknet ist. Man hebt ein paar Steine weg, scharrt Sand zur Seite, und das Wasser sprudelt wieder.
Â
»WeiÃt du noch, Sophie? Denkst du noch an unsere Träume?«
Das ist die Stimme ihres Geliebten. Ihr Zauber beschwört Erinnerungen herauf an Schlittenfahrten und lange Abende vor dem Kaminfeuer. An fröhliche, unbekümmerte Stunden. An lange Gespräche über die Zukunft und wie man sie lenken kann. Stanislaw spricht vom Schicksal, von der göttlichen Vorsehung, von kosmischen Kräften, sie vom freien Willen des Menschen.
So möchte sie es gern in Erinnerung behalten.
Monplaisir am Meer, Wellen klatschen gegen die Steine. Eine Terrasse. Ein langer warmer feuchter Kuss. Traurige Hundeaugen eines Mannes, der Abschied nehmen muss. Er will nicht weg, sagt er, aber es muss sein. Warum, das weià er noch nicht. Sie werden beide erst später verstehen, was sie daraus lernen sollen.
Â
Glück ist möglich, Sophie.
Ich bin nicht Sophie.
Wir hatten ein Kind. Eine Tochter namens Anna.
Anna ist gestorben. Maman ist gestorben und Papa auch. Papa, der nicht zur Hochzeit eingeladen war.
Von jeder anderen könnte ich es glauben, dass sie sich gewandelt hat, aber von dir?
Â
Ich werde herrschen oder untergehen. Das ist es, was ich gelernt habe.
Â
Angespanntes, besorgtes Geflüster. Wischka flüstert nicht. »Was hampelst du herum?«, bellt sie. »Mach dich nützlich. Hol einen Eimer und mach da drinnen sauber, statt rumzustehen und zu glotzen. Los, Bewegung.«
Stöhnen. Essiggeruch. »Nicht verschütten! Gib doch Acht, du Trampel«, faucht Wischka.
Etwas stimmt nicht mit ihr. Nichts ist so, wie es sich gehört.
Â
Sie ist die Kaiserin.
Sie braucht nur die Hand zu heben, dann kann sie wieder sprechen, und alles kommt in Ordnung.
Ihre Lippen bewegen sich.
Aber sie bringt keinen Laut hervor.
Noch nicht.
Â
Ich bin gestürzt. Ich bin verletzt. Ich brauche Zeit.
Ich muss nachdenken.
*
Einige Erinnerungen sind weggesperrt in einer Lade, wo sie sicher sind vor neugierig tastenden Händen. Wie eine Perlenkette, deren Schnur brüchig geworden ist. Die Zimmermäd
chen tun gut daran, sie nicht anzufassen, denn wenn die Schnur reiÃt, springen die Perlen in alle Richtungen davon, rollen über den Boden, verschwinden in Spalten und Ritzen.
In einer dieser Erinnerungen betastet sie eine mit Moos überwachsene Mauer. Ihre Finger erspüren einen Riss zwischen kalten, feuchten Steinen. Sie späht hindurch. Jenseits der Mauer blühende Bäume und Büsche, Rosensträucher, Kletterrosen, rankendes Grün, eine Symphonie von Farben und Düften.
Ihre Hand bekommt einen eisernen Gitterstab zu fassen, ein Türchen in der Mauer geht quietschend auf. Im Garten fällt ihr Blick auf eine Schaukel. Sie schwingt
Weitere Kostenlose Bücher