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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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hat sie denn? Wieso regt sich Anjetschka so auf?
    Hundekrallen kratzen auf dem Parkett. Eine Schnauze schnüffelt an dem Spalt unter der Tür des Klosetts. Ein beunruhigtes, ungeduldiges Winseln. Pani? Riecht sie etwas, das eine menschliche Nase nicht wahrnehmen kann?
    Ihre rechte Hand gehorcht ihrem Willen. Finger schließen sich. Wirklich wunderbar, wie das Zusammenspiel von Muskeln und Knochen funktioniert, denkt sie. Die zuckenden Schmerzen haben ihre Frequenz geändert, die Attacken folgen nicht mehr so dicht aufeinander. Dazwischen fühlt ihr Kopf sich zerbrechlich, brüchig an.
    Ihre linke Hand fasst die Türklinke. Wenn sie alle Kraft zusammennimmt, wird sie sich mit einem kräftigen Ruck vom Sitz hochreißen können. Sobald die nächste Attacke vorbei ist.
    Balletttänzerinnen, sagt sie sich, können sich allen Schmerzen zum Trotz anmutig über die Bühne bewegen.
    Jetzt, denkt sie.
    Hoch.
    Aber ihre Muskeln lassen sie im Stich. Sie rutscht ab, fällt auf den Boden wie eine Marionette, deren Fäden jemand abgeschnitten hat. Wie die Puppen, die Peter damals gebastelt und immer weiter perfektioniert hat, bis sie großartig stolz marschieren und sogar die Nase rümpfen konnten. Oder zu einem Haufen Holzglieder in sich zusammenfielen.
    Â 
    9.20 Uhr
    Ich bin nicht tot, denkt sie. Ich bin nur gestürzt.
    Sie wiederholt im Geist mehrmals jedes einzelne Wort. Es dauert lange, bis es zu ihr durchdringt.
    Ich? Bin? Nur gestürzt?
    Ihr Sichtfeld ist jetzt ganz eng. Sie sieht das Holz des Toilettensitzes, die feinen gewellten Linien der Maserung, abwechselnd heller und dunkler.
    Undurchschaubar, aber schön.
    Und auch die Adern in den Marmorfliesen ziehen sie an. Weiß, Braun, Grau, Rot – die Farben sickern aus winzigen Spalten und Poren des Steins. Dann ist da noch die Haut ihrer Hand mit ihren Altersflecken, den Gruben und hervortretenden Venen. Ihre Manschetten, so fein bestickt, dass sie einen einzelnen Silberfaden nur einen Moment lang sehen kann, bevor er in den Eichenblättern und Eicheln aufgeht. Wenn sie ihren Kopf ein kleines bisschen hebt, kann sie das Licht sehen, das durchs Fenster hereinflutet. Winzige Staubpartikel tanzen darin heitere Pirouetten und wilde Jagden.
    Draußen vor der Tür fragt eine Männerstimme: »Haben Sie heute Morgen schon mit Ihrer Majestät gesprochen?«
    Man sucht sie. Wischka, die immer alles weiß, versichert, dass die Kaiserin nicht weggegangen ist.
    Â»Sehen Sie«, sagt sie, »ihr Umhang ist noch da. Sie würde doch bei dieser Kälte nicht ohne Pelz ausgehen.«
    Ein Versteckspiel, denkt sie und muss beinahe lachen.
    Die Heiterkeit, die in ihr aufsteigt, bringt eine alte Erinnerung an Kinderfreuden mit herauf: Sie liegt unter einem Bett und hält sich die Nase zu, damit sie nicht niesen muss, denn die Dienstmädchen kehren nicht unter den Betten, wenn es nicht sein muss. Jemand kommt ins Zimmer. Das ist sicher Babette, die sie sucht, denkt sie, aber die Gouvernante trägt keine so teuren Satinkleider. Und da ist noch jemand: Sie sieht ein Paar Herrenschuhe mit silbernen Schnallen.
    Raschelnd hebt sich der Rocksaum und verschwindet aus ihrem Blickfeld, ein Rüschenunterrock fällt auf den Boden, weiße Strümpfe mit feuerroten Strumpfbändern, hochhackige Schuhe.
    Eine Männerhand streicht an den Schenkeln der Frau aufwärts. »Ich warte schon so lange«, murmelt eine Stimme.
    Die Frau schiebt kichernd seine Hand weg.
    Â»Komm«, sagt er. »Alle denken, wir sind im Garten.«
    Â»Denken sie das?«, flüstert die Frau kokett. Ihre Stimme klingt irgendwie vertraut.
    Maman?
    Kann das sein?
    Immer wieder glucksendes Gelächter, die Matratze biegt sich durch, das Bett wackelt. Eine Weste landet auf dem Fußboden, gefolgt von Kniebundhosen und einem weißen Korsett.
    Gemurmel. Liebesschwüre. Heiseres Keuchen.
    Süß. Sanft. Beruhigend. Rührend.
    Als das Stöhnen der Lust heftiger wird, schiebt sie ihre Hand unter ihren Unterrock, an die Stelle zwischen ihren Beinen. Sie lässt sie da liegen. Sie drückt. Fester, immer fester. Bis sie einen feinen Schauder spürt. Süß und klebrig wie Honig.
    Â 
    Â»Ihre Majestät hat ihre Suite nicht verlassen«, stellt Wischka noch einmal mit Nachdruck fest. Man hört, dass sie besorgt ist und sich selbst zu beruhigen versucht. »Ich war die ganze Zeit hier. Adrian Mosejewitsch kann es

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