Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
bezeugen.«
    Â»Klopfen Sie noch einmal, Sachar Iwanowitsch«, sagt Wischka. »Ihre Majestät hört nicht mehr so gut.«
    Sachar Iwanowitsch gehorcht. Die Kaiserin hört ein gedämpftes Klopfen und dann laut und deutlich die Stimme des Dieners: »Majestät, dürfen wir bitte eintreten?«
    Â 
    9.32 Uhr
    Das Klopfen draußen wird immer heftiger. »Majestät!«, hört sie eine Männerstimme rufen. Sie klingt besorgt, flehend. »Brauchen Sie Hilfe, Majestät? Darf jemand eintreten? Vielleicht Anna Stepanowna?«
    Anna Stepanowna? Anjetschka!
    Ein Hund bellt. Das Gebell verwandelt sich in sehnsüchtiges Gewinsel. So viele Hunde, denkt sie. Lebhaft, verspielt, aufgeregt hechelnd, voller Possen. Welcher ist es?
    Der Boden schwankt. Der Schmerz in ihrem Kopf hat sich in Myriaden kleiner Schmerzen aufgesplittert, manche nur wie winzige Nadelstiche, andere wie glühende Blitze.
    Irgendetwas ist mit mir passiert, denkt sie.
    Sie schafft es, den Kopf zur Seite zu drehen. Sie liegt auf dem Fußboden. Aber wieso? Ist sie gestürzt? Wann? Und warum kann sie nicht aufstehen? Warum kann sie nicht sprechen?
    Etwas Schlimmes ist passiert. Etwas Unvorhergesehenes. Etwas, an das sie nie gedacht hat.
    Bin ich krank? Hat mich jemand vergiftet?
    Ihre Gedanken überstürzen sich, einer schlimmer als der andere. Angst hat sie aufgescheucht. Wenn man die Angst einmal in sein Herz eingelassen hat, breitet sie sich immer weiter aus. Aber es gibt ein Mittel dagegen. Sie muss sich bemühen, sich all die missgünstigen Gesichter vorzustellen. Die triumphieren bei dem Gedanken, dass es ihr schlecht ergeht. Die Gesichter derer, die sie verleumden, die alle möglichen alten und neuen Lügengeschichten über sie verbreiten. Dass sie ihren Sohn, als sie ihn das erste Mal sah, einen »Kalmückenaffen« genannt
und sich nie um ihn gekümmert habe. Dass sie schon am Morgen unmäßig Champagner und ungarischen Wein trinke. Dass sie sich immer neue Liebhaber nehme und sie umbringen lasse, wenn sie ihr keine Befriedigung mehr verschafften.
    Sie muss nur an all die Bosheit und Häme denken, die sie umgibt, das hilft immer. Es fordert ihren Trotz heraus und macht sie stark. Dann sieht sie wieder klar.
    Ich brauche Hilfe. Sofort.
    Immerhin reden die Leute da draußen nicht mehr nur, sondern unternehmen etwas. Sie versuchen die Tür zu öffnen. Die Kaiserin spürt, wie die Kante der Tür gegen ihr offenes Bein drückt. Es tut weh. Bestimmt blutet es, bestimmt sind ihre Unterröcke schon mit ihrem Blut getränkt.
    Sie will etwas sagen, aber ihre Lippen bewegen sich nicht. Und es gelingt ihr auch nicht, ihr Bein wegzuziehen.
    Â 
    Â»Holt Doktor Rogerson!«, schreit jemand.
    Sotow. Er heißt Sotow.
    Er ist ihr Kammerdiener. Sie kennt ihn, natürlich.
    Sotow beugt sich über sie. Er hat einen Leberfleck unter dem Auge. Ein Büschel schwarzer Haare schaut aus einem Nasenloch hervor. Sein Atem riecht nach Knoblauch, nach Kohl, Sauerrahm und Gurken.
    Ein Leberfleck auf der linken Wange zeigt Unglück an, hat Anjetschka gesagt. Oder auf der rechten?
    Jemand zieht sie am Arm, eine andere Person fasst sie an den Beinen. Sie hört angestrengtes Keuchen. Sie ist so schwer wie die Erde selbst.
    Die Diener haben eine Matratze auf den Boden gelegt, als sollte sie wieder ein Kind zur Welt bringen. Aber das ist unmöglich, oder? Es ist lange her, dass sie geboren hat. Wie viele Kinder waren es? Drei. Was ist aus ihnen geworden? Eines ist gestorben. Eines, Grigoris Sohn, hat sie weggeschickt, weil seine Rücksichtslosigkeit sie empörte.
    Es sind viele Leute im Raum, die auf Zehenspitzen gehen und nicht wissen, was zu tun ist. Manche kennt sie, andere sind ihr vertraut, aber sie hat ihre Namen vergessen. Wischka und Anjetschka, die beiden Hofdamen, die ihr am nächsten stehen, beugen sich über sie. Ihre Gesichter sind zerfurcht vor Sorge und Schrecken. Ihre Lippen bewegen sich, doch es dauert verstörend lange, bis die Worte, die sie sprechen, bei der Kaiserin eintreffen, und sie klingen verzerrt, als hallten sie aus einem leeren Fass. »Haben Ihre Majestät Schmerzen? Doktor Rogerson ist schon unterwegs.«
    Sie lauscht und denkt über das nach, was sie hört. Das Innere ihres Schädels ist wie eine Klippe, an der sich Wellen brechen. Manche der Wellen bringen Schmerz mit sich, andere verwirren nur ihre Gedanken.
    Ihr Leibarzt Doktor Rogerson

Weitere Kostenlose Bücher