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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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immer genossen.
    Warum nicht?, lockt eine Stimme in ihr. Darfst du dir nicht auch einmal ein bisschen Vergnügen gönnen? Arbeitest du nicht hart genug?
    Â»Nicht jetzt!«
    Grigori packt sie an den Haaren, zieht ihren Kopf nach hinten. Das Beistelltischen kippt um, der Holzkasten knallt auf den Boden, all die Papiere werden im Zimmer verstreut wie welkes Laub.
    Die Papiere und das Tischchen kümmern ihn nicht. Wenn sie noch länger zögert, werden seine Arme sie niederzwingen. Die starken Arme eines Mannes, der ein scheuendes Pferd aufhalten kann.
    Sie wird weich wie ein Kätzchen. Sie schnurrt. »Du hast gewonnen«, flüstert sie ihm ins Ohr.
    Er erstarrt. Einen Moment lang ist es ganz still in dem dämmrigen Zimmer. Die beiden lauschen ihrem Atem.
    Er zögert noch, aber dann nähern sich seine Lippen den ihren. »Meine Katinka«, murmelt er so sanft und erleichtert, dass sie beinahe tatsächlich schwach wird.
    Seine Muskeln entspannen sich, sein Hände lassen los.
    Sie entschlüpft ihm so plötzlich, dass er gar nicht dazu kommt, sie festzuhalten. Sie stürzt zur Tür und reißt sie auf. Der Posten der Palastwache starrt sie schockiert an. Erst jetzt wird ihr klar, wie sie auf ihn wirken muss. Ihr Haar ist zerzaust, ihr Kleid
zerrissen, ihre Lippen bluten. Sie hat einen ihrer Schuhe verloren, und wahrscheinlich hat sie eine Schramme im Gesicht, denn ihre Wange tut weh und fühlt sich heiß an.
    Â»Heben Sie die Papiere auf«, sagt sie.
    Der Posten ist jung und hübsch. Mit flinken Bewegungen klaubt er die Blätter zusammen und überreicht sie ihr, den Blick gesenkt. Sie will sich lieber nicht vorstellen, was er denken mag. Sie deutet auf den Kasten. Er hebt ihn auf.
    Â»Schaffen Sie den Tisch fort.«
    Während er das Tischchen hinausträgt, klingelt sie nach der Zofe. Sie braucht Eis, um ihre Wange zu kühlen. Ein neues Kleid und Schuhe.
    Sie wendet sich an Grigori, der wie eine Salzsäule dasteht und immer noch nicht fassen kann, was passiert ist. »Gute Nacht, Graf Orlow«, sagt sie. »Bis morgen.«
    Â»Gute Nacht«, murmelt er so leise, dass es kaum zu verstehen ist.
    Was immer er denken mag, ist uninteressant. Viel wichtiger ist, was sie, die Kaiserin, in den Augen ihres Liebhabers sehen kann.
    Sie sieht Furcht, nicht Zorn.
    Flehen, nicht Stolz.

 
 
ZWEITER TEIL
    5. November 1796
    9.15 Uhr
    Ihr rechter Arm hängt schlaff herab, als gehörte er gar nicht zu ihr. Ein scharfer Schmerz schießt in ihren Kopf. Irgendetwas stimmt nicht.
    Besborodko, der fähigste ihrer Minister, hat sie gewarnt: Zwei junge Franzosen sind ausgesandt worden, sie zu töten. »Sie haben schon die Grenze überschritten, Majestät«, hat er gesagt. »Sie geben sich als Opfer der Revolution aus, die ihren ganzen Besitz verloren haben. Sie warten nur auf eine günstige Gelegenheit, einen Ball, ein Maskenfest, eine Audienz. Der eine wird einen Dolch im Ärmel versteckt bei sich tragen, der andere eine Pistole.«
    Sie hat darüber gelacht. »Wenn es wirklich so wäre, würden wir es dann erfahren? Glauben Sie, ich fürchte mich vor einem Attentäter, der nicht imstande ist, seinen Plan geheim zu halten?«
    War das ein Fehler?
    Die Franzosen sind Lügner. Sie sprechen von Freiheit und Brüderlichkeit, und dann lassen sie den Mob los. Im Namen der Gerechtigkeit schleppen sie ihren König und ihre Königin zum Schafott. Wie dieser Scharlatan Cagliostro behaupten sie, sie könnten Urin in Gold verwandeln. Sie vergessen, dass die Schranken der Furcht, einmal niedergerissen, nicht leicht wieder aufzurichten sind. Dass der Mensch, der allein seinen animalischen Instinkten folgt, nicht Handel oder Ackerbau treibt, sondern raubt und plündert.
    Sie ist nicht leicht zu erschrecken, aber der Gedanke an rebellische Volksmassen erfüllt sie mit Grauen.
    Männer, die Sensen zu Spießen umschmieden, Bäume zu Galgen machen, Taue zu Henkerstricken knüpfen. Frauen wie jene revolutionären Fischweiber, die lauthals verkündeten, sie würden am liebsten Marie Antoinettes Eingeweide in ihren Schürzen und ihren Kopf auf eine Pike aufgespießt durch die Stadt tragen.
    Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
    Â 
    9.16 Uhr
    Absätze klacken im Vorzimmer. Jemand geht nervös auf und ab.
    Â»Was hast du hier zu suchen?«, schreit Anjetschka jemanden an. »Verschwinde.«
    Was

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