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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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arrogant. Seine Lehrer verzweifelten, verziehen, verzweifelten erneut. Schließlich wurde Grischa Potjomkin wegen Faulheit und ständiger Abwesenheit von der Schule verwiesen.
    Wo ist Tschischowo?
    Irgendwo im westlichen Grenzland. Weit weg von Moskau und noch weiter weg von Sankt Petersburg. Eine Nadel im Heu
haufen ihres Reichs. Wenn man beim Vorbeikommen gerade blinzelt, übersieht man es.
    Â 
    Für Grigori Orlow ist Grischa Potjomkin eine unterhaltsame Abwechslung.
    Â»Was für ein Clown! Er bringt jeden zum Lachen.«
    Â»Wie denn?«
    Â»Er kann Panin nachmachen, Schuwalow, das Fräulein .«
    Â»Das möchte ich sehen!«
    Zur Erheiterung der Kaiserin einbestellt, spaziert Grischa Potjomkin mit einem geheimnisvoll hermetischen Lächeln in eines der inneren Gemächer des Winterpalasts. Sein Haar ist seidig, rotbraun, so schön, wie sie es in Erinnerung hat. Neben ihr reibt Grigori Orlow sich die Hände, als wäre dieser Leutnant der Leibgarde seine Erfindung.
    Â»Das kann ich nicht, Majestät«, protestiert Grischa Potjomkin. »Ich verstehe mich überhaupt nicht aufs Nachmachen. Bitte vergeben Sie mir, Madame, und entschuldigen Sie, dass ich Sie und Ihren erlauchten Hof enttäuschen muss.«
    Er spricht mit unverkennbar deutschem Akzent. Er trägt den Kopf hoch, als stünde er ganz oben auf einer Marmortreppe und blickte auf sie alle herab. Seine Gestik ist ein wenig feminin.
    Sie bemerkt das anschwellende Gemurmel, Grigori Orlows lautes, spöttisches Lachen. Sie weiß, was ihr Liebhaber denkt. Eine Kaiserin, die noch neu ist, lässt sich noch nicht sicher einschätzen. Fühlt sich noch nicht richtig wohl in ihrer Haut. Was wird eine Frau, die erst seit wenigen Stunden Monarchin ist, mit einem Mann machen, der es wagt, sie zu imitieren?
    Sie lacht.
    Ihr Leben hat sich gerade auf eine Weise verändert, die sie noch nicht ganz ermessen kann. Was sie seit so langem begehrt, ist jetzt ihrs und auf wundersame Weise Geschenk und Last zugleich. Das Lachen wirkt erlösend, es befreit, was in
nerlich an ihr gezerrt hat. Furcht, Dunkelheit und das wilde Hochgefühl des Siegs.
    Und er, Grischa Potjomkin?
    Er glaubt, er habe schon gewonnen. Er habe sie mit diesem Lachen erobert. Ihren Widerstand gebrochen, sie betört. Grischa Potjomkin, ungeduldig und jung, glaubt an Transformationen. An glückverheißende Momente. Momente, die er entschlossen packen und ausquetschen wird wie eine Zitrone.
    Deshalb wird er sie in den kommenden Monaten verfolgen. Sich ihr zu Füßen werfen, auf den Korridoren des Winterpalasts, in den Gärten von Zarskoje Selo, auf dem Pflaster von Peterhof. Seine Augen werden vor Eifer funkeln, das rötliche Haar in der Sonne aufleuchten. Er wird ihr schmeicheln, sie mit Komplimenten überhäufen. Er wird ihr die Hand küssen. Ihr seine Liebe gestehen. Obwohl zurechtgewiesen, wird er weiter an ihrem Kartentisch erscheinen, sich über ihre Schulter beugen, um ihr in die Karten zu blicken, wird Grigori Orlows wachsenden Zorn ignorieren.
    Sie wird lachen oder lächeln oder ungläubig den Kopf schütteln und weitergehen. Seine Aufmerksamkeiten gefallen ihr, doch das soll er nicht wissen. Warum ein Kind verwöhnen? Warum solch unschuldiges Vergnügen besudeln? Am besten beobachtet man ihn aus der Ferne. Lässt ihm kleine Beförderungen zukommen. Kammerjunker. Assistent des Prokurators der Heiligen Synode. Heereszahlmeister. Sekretär der Kanzlei für ausländische Kolonisten.
    Ihr cavalier servante ist allzu jung, zu unbedacht, zu eifrig. Er braucht ihre Führung, ihre Warnungen.
    Warnungen, die er nicht beherzigen wird.
    *
    Blicke auf uns, große Frau,
    Sei gewiss mit gutem Mut:
    In des Volkes Seele brennet
    Deines kühnen Geistes Glut.
    Â 
    Die Zeit darf nicht mit müßigen Vergnügungen vertan werden. Die Zeit gehört nicht ihr, sondern dem Reich.
    Es ist so viel zu tun. Russland wächst, doch dieser Prozess geht nicht ohne Stockungen und immer neue Schwierigkeiten vor sich. Wenn man eine Entscheidung zugunsten einer Partei oder Interessengruppe trifft, erregt man den Zorn aller übrigen. Kein Schritt, den man tut, ist unbedenklich. Jede Initiative stößt auf Argwohn und Widerstand.
    Eine Mutprobe? Geht es darum, Stehvermögen zu demonstrieren? Alle mathematisch exakte Kalkulation erweist sich als graue Theorie, sobald man es mit wirklichen Menschen und deren Handlungen im

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