Die Zarin der Nacht
täglichen Leben zu tun hat. Die Schwachen empören sich gegen die Starken, mögen ihre Chancen auch noch so schlecht stehen. In der Politik ist alles möglich und nichts gewiss.
Als sie mehr Religionsfreiheit für die Orthodoxen in Polen fordert, geht ein Aufschrei durch das Land: Russland vergreift sich an den heiligsten Gütern der Nation! Stanislaw, der jetzt König von Polen ist, bittet um mehr Zeit: Er will Reformen aufschieben, die doch seine Regierungskompetenzen erweitern und sein Königtum stärken würden. Seine Untertanen betrachten ihn als einen Statthalter Russlands und greifen zu den Waffen. Ukrainische Kosaken, voller Zorn gegen ihre polnischen Herren und jüdischen Verwalter, schlieÃen sich der Erhebung an. Und wenn die Wut der Kosaken überkocht, bebt die Erde.
In jeder ihrer verschiedenen Residenzen hat sie Exemplare der Bücher, die ihr am wichtigsten sind: Montesquieu, Locke, Beccaria. Aus diesen Ideen spricht der Geist Europas, und Russland ist ein europäisches Land, nicht das Stammesgebiet irgend
welcher asiatischer Wilder, die keinerlei Bildung haben und Grausamkeiten aller Art tolerieren.
Jeden Tag schreibt sie an ihrem nakas . Ihre »GroÃe Instruktion« soll ihr Vermächtnis sein, ein Schatz des Rechts und der Ordnung, den sie Russland hinterlassen wird. Die Sammlung enthält nicht die neuen Gesetze, die für alle ihre Untertanen gelten sollen â die Gesetzgebung will sie einer Kommission überlassen, die sie zu diesem Zweck eingesetzt hat. Sie skizziert nur die Leitlinien des neuen Rechtssystems:
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Verbrechen verhindern ist besser als bestrafen.
Die Gesetze und die Justiz sollten darauf ausgerichtet sein, die Verbrecher zu bessern.
Worte allein können niemals strafbar sein.
Zensur nutzt niemandem und fördert nur die Unwissenheit.
Folter ist ein Verbrechen.
Jeder Bürger möchte sein Land glücklich, ruhmreich und sicher wissen.
Gesetze sollen schützen, nicht unterdrücken.
Ein Herrscher regiert allein, aber er ist immer fundamentalen Gesetzen verpflichtet, die von der Tradition, den Sitten und Gebräuchen vorgegeben sind.
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»Was kritzelst du andauernd, Katinka?«, fragt Grigori Orlow. Es herrscht eine Art Waffenstillstand zwischen ihnen, aber sie sind einander nicht wirklich wieder gut. Ihrer beider Sohn Alexej Grigorjewitsch, der inzwischen im Palast lebt und die besten Erzieher hat, ist nur einer der Gründe für Ãrger. Zerrissene Bücher, achtlos auf alte Folianten verspritzte Tinte. »Ein Soldatensohn«, erklärt Grigori mit hämischer Freude, »weigert sich eben, an einen Schreibtisch gekettet zu werden.«
»Monsieur Pompadour«, nennt Grigori Orlow sich selbst. Am liebsten beendet er all ihre Streitereien, indem er mit steinernem Gesicht davonstolziert.
Man kann Ãrgernisse ignorieren. Oder Berichte, die sie morgens auf ihrem Schreibtisch vorfindet. Die Rechnung von einer Gastwirtschaft, deren Mobiliar zertrümmert wurde einschlieÃlich einer Kuckucksuhr, deren Kuckuck jemand mit einer Pistole abgeschossen hat. Wieder ein Saufgelage in der banja des Palasts, anschlieÃend eine Fahrt mit der Kutsche durch die Stadt in Begleitung einer nackten Hure. Wieder eine schwangere Kammerzofe, die auf das Landgut der Orlows geschickt wurde. Eine Tapete mit freizügigen Bildern eines Paares beim Liebesspiel. »Die abgebildete Frau weist eine klar erkennbare Ãhnlichkeit mit Ihrer Majestät auf.«
Sie hat kleine pralle Brüste, ein rundliches Gesäà und zerzauste schwarze Haare. Der Mann jagt sie durchs Zimmer, wirft sie auf den Boden, besteigt sie.
»Ihre Majestät sollten ein deutliches Wort sprechen«, sagt Panin. »Es ist nicht gut, allzu nachsichtig zu sein.«
Wenigstens sagt er nicht: »Es ist töricht.«
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Russland braucht neue einheitliche Gesetze, damit das Land zusammenwächst. Sie hat die allgemeinen Prinzipien skizziert, den Entwurf ihren Beratern vorgelegt und ihn dann überarbeitet, strittige Passagen gestrichen, anderes abgeschwächt und verwässert. Nun, sagt sie zu den Delegierten, studieren Sie diese allgemeinen Prinzipien, sehen Sie zu, wie weit es möglich ist, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Entwerfen Sie die neuen Gesetze.
In der Gesetzgebenden Kommission mitarbeiten zu dürfen ist eine Ehre. Dies ist ein groÃer Moment in der Geschichte Russlands. Der Beginn wahrer Aufklärung.
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