Die Zarin der Nacht
Alexandrine, Jelena und Maria spielen in einiger Entfernung. Alexander, der im Dezember zwölf wird, will eine Hütte aus Ãsten und belaubten Zweigen bauen. Aber kaum sind die ersten Pfosten in die Erde gesteckt, verliert sein Bruder Konstantin die Lust. Er findet das Unternehmen dumm: Was für einen Sinn soll es haben, ein Haus an einem Ort zu bauen, an dem man sich nur einen Nachmittag lang aufhält?
Sie erinnert sich daran, wie sie Konstantin nach seiner Geburt im Arm gehalten hat, ein schreiendes, schrumpeliges Wesen, die schielenden Augen vom Tageslicht geblendet.
»Was sollen wir dann spielen?«, fragt Alexander gekränkt. Die beiden Brüder befehden einander ständig; jeder will der Stärkere sein. Warum schmollt Alexander jetzt, statt das Kommando zu übernehmen?
»Reisen wir auf die Krim«, sagt Konstantin. Sie stellen ein paar Klappstühle zusammen und erklären sie zu der kaiserlichen Barke, die anschlieÃend auf den Wogen des Dnjepr nach Süden fährt, wo sie auf den Spuren ihrer GroÃmutter die neuen Territorien besichtigen. Ihre dreijährige Schwester Maria, ein pausbäckiges und ziemlich hässliches Kleinkind, kreischt vor Entzücken, als Alexandrine sie auf den Armen schaukelt. Alexander macht sie auf die groÃartigen Wasserfälle aufmerksam und reicht ihr sein Fernrohr, ein zusammengerolltes Stück Papier. Maria schaut hindurch. »Ich sehe nur Bäume«, sagt sie enttäuscht. »Und GroÃmama.«
»Du musst so tun, als wären wir woanders. Du verdirbst das ganze Spiel, du dumme Gans!«, schreit Konstantin empört und reiÃt ihr das Fernrohr aus der Hand.
Maria bricht in Tränen aus.
»Schau, was du wieder angerichtet hast«, sagt Alexandrine vorwurfsvoll. Konstantin springt aus der Barke. Er hat eine Reitgerte in der Hand, mit der er das Gras peitscht. Er ist ein Krieger, der alles niedermäht, was sich ihm in den Weg stellt.
Es ist ein Tag im Juli 1789, in dem Jahr, in dem sie sechzig Jahre alt geworden ist. Eine Zeit voller Unruhe, schreibt sie in ihren Briefen. In den letzten Monaten hat ein Liebhaber sie verraten, und jetzt wirbt ein Neuer um ihre Gunst.
»Ich habe dich vor ihm gewarnt«, hat Grischenka gesagt. »Aber du wolltest es nicht hören.«
Und Anjetschka findet, der treulose Rotrock ist ein Dummkopf, den es schon bald bitter reuen wird, dass er sein Glück so leichtfertig verspielt hat. Hauptmann Subow hat ein viel angenehmeres Naturell. Er wird ihr keine Szenen machen oder ihr mit seinem Schmollen die Laune verderben. »Warum nur tut eine Trennung so weh, trotz allem?«, hat sie Anjetschka gefragt, aber die Antwort war allzu vorhersehbar: »Ihre Majestät ist zu gut. Sie sind zu nachsichtig.«
Es ist immer eine Niederlage, wenn man betrogen wird. Und Niederlagen tun weh.
Direkt vor meinen Augen, denkt sie, und sie fühlt einen Stich im Herzen, als hätte sie eben erst erfahren, dass Monsieur Rotrock ein Verhältnis mit einer ihrer Hofdamen hat. Dass er seiner Mätresse Obst von ihrer Tafel geschickt hat. Als stünde sie wieder in dem Zimmer, in dem die beiden sich getroffen hatten. Er hat einen Streit mit ihr vom Zaun gebrochen, ist aus dem kaiserlichen Schlafzimmer gestürmt und von da direkt in die Arme seiner Geliebten.
»Darf ich, Majestät?«, sagt Hauptmann Subow und hält ihr die Schale mit den Melonenstückchen hin wie eine Opfergabe.
Sie schüttelt den Kopf, aber der schöne Hauptmann lässt sich nicht abweisen. Sie nimmt ein Würfelchen und steckt es in den Mund. Das rote Fruchtfleisch schmilzt auf ihrer Zunge. Es ist eiskalt und sehr süÃ.
Sie blickt zu den Kindern hinüber. Konstantin ist weg, Alexandrine und Jelena haben die Köpfe zusammengesteckt und tuscheln miteinander. Maria reibt sich mit ihren pummeligen Fingerchen die Augen. Alexander steht abseits, die Hände vor
der Brust verschränkt, und blickt zu Boden. Er stöÃt verdrossen mit dem Fuà gegen einen Erdklumpen.
Ein Spiel, denkt sie. Wir sollten alle zusammen irgendetwas spielen.
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Blindekuh erweist sich als Fehlschlag, alles geht schief. Konstantin weigert sich mitzumachen. Maria flüchtet in die Arme des Kindermädchens, nachdem sie gestolpert und hingefallen ist. Alexander lässt sich die Augen verbinden, aber dann wedelt er nur halbherzig mit den Händen und macht gar keinen ernstlichen Versuch, jemanden zu fangen.
Hauptmann
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