Die Zarin der Nacht
wie: Er hat Dienstboten zu seinem Bruder geschickt mit der Bitte, ihm Besteck und Stühle für ein Diner zu borgen.
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Als Stanislaw die kaiserliche Barke betritt, wird er sofort von aufgeregten Höflingen umringt, die sich kein Detail des bevorstehenden Ereignisses entgehen lassen wollen. Nach achtundzwanzig Jahren werden die beiden Liebenden von einst einander wiedersehen. Man wird sie genau beobachten. Jedes Wort, jede Geste wird man vermerken, kommentieren und deuten. Ihr BegrüÃungslächeln und seines. Oder das Ausbleiben eines solchen Lächelns.
Der Hof spricht von nichts anderem, versichert der Kammerdiener. Man hat Wetten abgeschlossen. Es wird heftig spekuliert. Werden Tränen der Rührung flieÃen? Selbst Anjetschka und Wischka lassen sich von der albernen Aufregung anstecken und zerbrechen sich die Köpfe darüber, wie sie ihre Herrin am besten herausputzen können. Eine Feder mit einem einzelnen Diamanten? Ein Kollier aus schwarzen Perlen? Ein Fichu, das den Hals Ihrer Majestät verdeckt? »Warum sollte ich meine Falten verstecken wollen?«, fragt sie. »Ich bin jetzt achtundfünfzig Jahre alt. Soll ich mich dafür schämen?«
Warum sie nur alle wollen, dass sie sich wieder von längst vergangenen Gefühlen überwältigen lässt? Weil sie eine Frau ist? Und folglich gefallsüchtig, blind für die Interessen des Reichs, taub für alle Gebote der Vernunft?
All die kaiserlichen Geschenke werden aufgezählt: Für Stanislaw den Andreasorden und eine goldene Medaille mit ihrem Bildnis auf der eine Seite und dem von Peter dem GroÃen auf der anderen. Für die weiblichen Familienmitglieder den Katharinenorden und Bildnisse der Kaiserin in mit Brillanten
besetzten Fassungen. Dazu kommen noch weitere kostbare Zeichen ihrer Gunst wie Juwelen und Renten.
Die russische Kaiserin lässt sich nicht lumpen.
»Graf Poniatowski«, verkündet der Lakai, als Stanislaw den Audienzraum betritt. Gekleidet in elfenbeinfarbene Seide. Sein Gang ist etwas steif, aber durchaus elegant.
Wieso benutzt er seinen Familiennamen? Wieso nicht »Der König von Polen«?
Soll sie das als Zeichen von Bescheidenheit auffassen? Will er damit seinen Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die steifen Formen des Protokolls nicht zwischen ihnen stehen mögen? Oder appelliert er damit an ihre Gefühle? Wird er so weit gehen, sie Sophie zu nennen? Oder sie an die gemeinsame Tochter erinnern, die sie einst hatten?
Sie mustert das glatte Gesicht des Königs. Er ist jetzt fünfundfünfzig, aber sein jüngeres Ich ist noch in seinen braunen Augen, in dem fein geschnittenen Unterkiefer, den Grübchen in den frisch gepuderten Wangen gegenwärtig. Aufrecht, schlank, immer noch gutaussehend, wenn auch, wie man bei genauerer Prüfung feststellen kann, ein kleines bisschen verbraucht. Kein ins Auge springender Makel, keine gerötete Nase. Repnin hat geschrieben: Er trinkt nicht einmal ein Glas Wein zum Essen, was in Polen eher als Fehler denn als Tugend gilt.
Um sie herum unruhig scharrende FüÃe, angehaltener Atem. Grischenka hat mit neugierigem Grinsen gefragt: »Kein bisschen Bedauern, Katinka? Hast du nicht immer gesagt, dass er deine groÃe Liebe war?«
In Stanislaws kurzsichtigen Augen ist sie nur eine verschwommene Gestalt. Als er so nahe vor ihr steht, dass er sie scharf sieht, zupft er am Kragen seines Rocks, rückt die Rüschen vor seiner Brust gerade. Die Geste hat etwas Verzweifeltes, so als wäre ihm plötzlich klargeworden, dass er sich für die falsche Garderobe entschieden hat. Der Rock ist eng geschnitten und reich mit silbernen Stickereien verziert. Wie ein Panzer, denkt sie.
Grischenka hat gesagt: »Sei ehrlich, Katinka, gib es zu: Die polnische Krone war ein verhängnisvolles Geschenk.«
Stanislaw verneigt sich, dann hebt er den Kopf wieder. Sein Blick huscht über ihr Gesicht, ihre Arme, ihre ausgeweitete Taille. Zu hastig, denkt sie. Waren seine Lippen schon immer so dünn?
»Wir heiÃen den König von Polen an unserem Hof willkommen«, sagt sie und streckt ihre Hand aus. Stanislaw fasst sie mit spitzen Fingern und küsst sie so ehrfürchtig, als wäre sie eine Reliquie. Seine Hand fühlt sich schlaff an. Haben seine Berater ihm nicht gesagt, dass sie männlich fest zupackende Hände schätzt?
Wie sie alle gaffen! Anjetschka hat ihre pummeligen Hände gefaltet, als betete
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