Die Zarin der Nacht
lieben und Dir dankbar sein für deine Erziehung, die Russland nur Gutes gebracht hat.
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Es ist keine Schande, seinen Enkelsohn zu lieben. Zu sehen, wie er über seinen Vater triumphiert.
*
Geduld war nie eine von Grigori Orlows Tugenden.
»Keinerlei ZwangsmaÃnahmen«, hat sie zu Alexej gesagt. »Keine eiskalten Duschen. Er wird nicht eingesperrt, nicht geschlagen oder sonstwie gemaÃregelt. Sie tun nichts, was ihm missfällt. Lassen Sie ihn in Frieden.«
Sotow hat Anweisung, Fürst Orlow jederzeit vorzulassen. »Egal, wie er gekleidet ist«, hat sie gesagt. Und so kommt es vor, dass Grigori Orlow im Morgenrock bei ihr erscheint oder in einer Kombination aus Teilen verschiedener Uniformen, weil er nicht mehr weiÃ, welche Stücke eigentlich zusammengehören.
Es tut weh, ihn in diesem Zustand zu sehen. Sein leerer Blick scheint in die Vergangenheit zu starren, aus der nur gelegentlich in helleren Momenten ein paar Fetzchen Erinnerung auftauchen. Dabei ist er erst neunundvierzig, fünf Jahre jünger als sie. Wenn er auch nicht mehr ihr Liebhaber ist, so ist er am Ende doch ein Freund geworden.
Ein Freund, der nicht fortgelaufen ist oder sie verraten hat wie andere. Der ihr auch nie den Vorwurf gemacht hat, sie sei undankbar.
Seine Brüder geben auf ihn Acht, so gut es geht. Aber er ist Grigori Orlow, draufgängerisch und schlau und nicht unter Kontrolle zu halten. Kaum lassen seine Leute in Gatschina ihn einen Moment lang aus den Augen, klettert er aus dem Fenster, sattelt sein Pferd und reitet nach Sankt Petersburg. Dann
erscheint er in seiner schmutzigen Unterwäsche vor ihr, die Arme weit ausgestreckt, Komplimente murmelnd. »Sind die Leute hier nett zu dir, Katinka? Kümmern sie sich anständig um dich? Lassen sie dich nicht hungern und dürsten?«
Warum lässt sie den verlotterten Fürsten frei im Palast umherlaufen? Er entblöÃt sich, jagt hinter Kammerzofen her, erschreckt die Enkel der Kaiserin. Die Gesandten fremder Höfe haben unzählige Anekdoten nach Hause zu berichten. »Man muss sich ja vor dem Ausland schämen«, raunen die Höflinge ihr zu.
Wenn sie ihnen antwortet, sie schäme sich nicht ihres Mitleids mit einem Mann, der früher ihr Gefährte war, ändern sie ihre Taktik.
Grigori Orlow ist immer noch stark wie ein Bulle. Er kann ein Hufeisen verbiegen oder einen Schürhaken. Man hat ihn einen Birkenstamm schwingen sehen wie einen Säbel. In Gatschina riss er einmal ein Fenster aus der Wand. AnschlieÃend sprang er von einer Brücke ins reiÃende Wasser eines Bachs, wo er beinahe ertrank.
Es könnte passieren, sagt man ihr, dass er sie, verwirrt, wie er ist, für jemand anderen hält und sie erschlägt oder die Treppe hinunterstöÃt.
»Nein«, erwidert sie. »Mag sein, dass er nicht weiÃ, wer ich bin, aber er wird mir nie etwas zuleide tun.«
Sie ist fest davon überzeugt.
Einmal, als sie in ihrem Arbeitszimmer sitzt und liest, schleicht sich Grigori Orlow auf Zehenspitzen von hinten an sie heran. In seiner Perücke, deren Zopf abgeschnitten ist, wimmelt es nur so vor Läusen. Aufgeregt flüstert er ihr zu: »Komm mit, Katinka, schnell. Wir müssen uns beeilen.«
»Wohin soll ich mitkommen?«, fragt sie freundlich.
»Auf eine Pilgerreise, Katinka. Wir müssen den ganzen Weg zu Fuà gehen und beten.«
»Warum?«
Er sieht sie mit brennenden Augen an. Er wirkt nicht verwirrt, nur traurig.
»Um BuÃe zu tun für das, was wir getan haben.«
*
Wann haben sich die Dinge so abrupt geändert?
Katharina schickt immer noch Botschaften: Versuche, die Angelegenheit mit den Türken rasch zu Ende zu bringen, warne sie, dass wir, falls sie unsere Bedingungen nicht akzeptieren, uns die Freiheit nehmen werden, sie noch unangenehmer zu gestalten. Erinnere sie daran, dass man mit dem arbeitet, was ist, nicht mit dem, was sein könnte.
Sie beschäftigt sich nur noch mit Kalkulationen. Aufregenden Kalkulationen, die stets allen Schlachten folgen. Depeschen fliegen hin und her. Hinweise werden dechiffrierten Briefen entnommen, Drohungen ausgetauscht, alte Allianzen aufgewärmt und neue gesucht. Politische Scharmützel, die beide genieÃen und die â sehr bald â zu einem weiteren glorreichen Sieg führen werden. Die Türken mögen ihre Niederlage nicht zugeben wollen, doch am Ende triumphiert stets die schlichte
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