Die Zarin der Nacht
sollte, wieso konnte sie dann nicht so lange warten, bis die Schatulle in deiner Gegenwart geöffnet wird, Katinka? Wieso hat sie nicht darauf vertraut, dass du seinen letzten Willen respektierst?«
Sie blickt in Platons schönes Gesicht, bemerkt die dunklen Schatten an seinem Kinn. Er hat eine gewisse Eigenart, die ihr unbegreiflich ist, redet unbeirrt weiter, auch wenn sie noch so viele Warnsignale ausschickt.
»Ich möchte doch nur«, sagt er und zwinkert, »deine Interessen wahren, Katinka. Dir nützlich sein. Du bist viel zu nachgiebig.«
Sie will jetzt einfach nicht weiter über die Unzulänglichkeiten eines Knaben nachdenken, der es noch nicht versteht, ein Mann zu sein. Als ihre Minister sie fragen, wen sie nach Jassy schicken sollen, um Grischenkas Aufgaben zu übernehmen, zögert sie keinen Augenblick. »Besborodko«, sagt sie.
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DRITTER TEIL
5. November 1796
9.37 Uhr
Hände, starke, tüchtige Hände, versuchen sie hochzuheben, aber ihr Körper lässt sich nicht von der Stelle bewegen. Sie ist schwer geworden wie der uralte, ungeheuer groÃe, mit Moos bewachsene Felsblock in Karelien, den sie damals ausgewählt hat, um daraus ihr Standbild Peters des GroÃen hauen zu lassen.
Man sagte ihr, einen Block dieser GröÃe könne man nicht transportieren, schon gar nicht über viele Meilen Wald und Sumpfland. Er sei zu mächtig, zu schwer, sagten alle. Auch nicht übers Wasser. Er werde mitsamt dem Schiff untergehen.
Sie hatten unrecht.
Sie sollten noch oft unrecht haben.
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»Wir können niemanden holen. Niemand darf davon wissen. Also los, alle miteinander.«
»Vorsicht.«
»Zerren Sie nicht so stark, Adrian Mosejewitsch. So geht das nicht. Wir müssen es gemeinsam schaffen, gleichmäÃig.«
»Legen Sie die Matratze da hin. Los! Auf was warten Sie?«
»Auf den Boden, habe ich gesagt. Neben das Bett.«
»Hier?«
»Nein, mehr nach links. Da zieht es nicht so.«
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Gedanken zerstreuen sich wie Kinder, die Blindekuh spielen. Erleichtert merkt sie, dass man sie in ihr Schlafzimmer trägt.
Sie ist schwer.
Sie hört die Leute schnaufen und ächzen. Einzelne Worte, Anweisungen. »Nicht so, wir müssen sie drehen ⦠tiefer ⦠durch die Tür ⦠passen Sie doch auf, das Kleid ⦠Vorsicht an der Schwelle.«
»Um Gottes willen! Ziehen Sie den Rock wieder zurecht.«
»Wischen Sie das Blut weg.«
»Niemand wird eingelassen ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Wenn jemand fragt, sagen Sie, die Kaiserin ruht.«
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»Gott sei uns gnädig!«
»Was soll aus uns werden?«
»Da ist kein Blut ⦠Keine Verletzung.«
»Hat Majestät sich den Kopf angeschlagen?«
»Vielleicht ist sie ohnmächtig geworden?«
»Aufwischen, schnell!«
Die Augen in den starren Gesichtern sind voller Furcht. Jemand schnappt nach Luft. Was geht in ihren Köpfen vor? Beklagen sie bereits ihren Tod? »Ich dachte zuerst, es wäre eingebrochen worden«, teilt Anjetschka jemandem aufgeregt mit. »Papiere überall auf dem Boden verstreut, die Tasse in Scherben, die Uhr vom Kaminsims gestoÃen.«
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Eine Hand drückt einen Spiegel an ihre Lippen.
Zu fest.
Ihr Herz krampft sich zusammen, setzt kurz aus, schlägt weiter. Eine Fliege summt um ihr Ohr, aufdringlich, geschäftig, scheuÃlich. Aus den Eiern von Fliegen schlüpfen Maden.
Wischka verkündet feierlich: »Ihre Majestät lebt. Ihr Gesicht ist warm.«
»Drängen Sie sich doch nicht alle so um sie. Lassen Sie Majestät atmen. Treten Sie zurück.« Ihre Stimme klingt warnend. Kein Wort über das, was passiert ist, darf nach auÃen dringen. Eine kurzzeitige Schwäche wäre erklärbar. Ein Sturz. Ein Straucheln. Ihre Majestät ist nicht mehr so gut zu Fuà wie früher.
Sie weichen vom Bett zurück. Schlurfende Schritte. Das aufgeregte Atmen entfernt sich. Die Kaiserin schlieÃt die Augen.
Bevor die Gedanken wieder Sinn ergeben, erfüllt einer sie mit blindem Schrecken. Was ist, wenn sie den Verstand verloren hat? Wenn sie verrückt geworden ist? So wie Grigori Orlow, der am Ende nicht mehr wusste, wer er war. Der nur noch stumpf vor sich hin glotzte und nicht einmal mehr merkte, dass ihm Sabber aus dem Mund lief.
Aber die Angst dauert nicht lang. Ihre Gedanken sind klar genug. Sie hat nur keine Macht
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