Die Zauberlehrlinge
und keiner schien sich auch nur entfernt für die allein und mit gesenktem Kopf dahintrottende Gestalt zu interessieren. Als er den dritten Stock erreicht und ein leeres Schwesternzimmer passiert hatte, fand er ohne große Schwierigkeiten das Ende eines kurzen Ganges mit einem trüben Fenster, durch das er über ein Durcheinander von Dächern hinweg die schmutzverkrustete Flanke des British Museum erspähte. Zimmer E318. In Augenhöhe hing ein Namensschild an der Tür: David Venning. Also kein Irrtum. Aber trotzdem ein Fremder, da war Harry immer noch sicher. Es sei denn, die vermeintliche Sicherheit war in Wirklichkeit eine verblassende Hoffnung.
Er stieß die Tür auf und trat ein. Das Zimmer war klein, aber komfortabel möbliert. Helles Holz, pastellfarbener Teppichboden und ein großes Fenster mit geblümtem Vorhang schufen eine denkbar helle, luftige und normale Atmosphäre. Allerdings endete die Normalität am Bett. Reglos lag ein junger, dunkelhaariger Mann darin, den Kopf auf ein glattes Kissen gebettet. Seine Arme ruhten gleich stark angewinkelt auf der Bettdecke. Er gab kein vernehmbares Geräusch von sich, und doch war es nicht still, Harry hörte den stetigen Rhythmus künstlicher Beatmung. Auf einem niedrigen Tisch neben dem Bett, durch einen gerippten Plastikschlauch mit einem Ventil am Hals des Mannes verbunden und an den Luftröhrenschnitt angeschlossen, durch den seine Lungen gefüllt und entleert wurden, stand ein Beatmungsgerät mit einer Art Gebläse. Ohne das der Mann, so sagte Harry sein geringes medizinisches Wissen, sterben würde. Das sah nicht gut aus. Friedlich, ja fast heiter. Aber alles andere als gut.
So traurig der Anblick eines scheinbar vitalen und gesunden jungen Mannes auch war, der regungslos und künstlich beatmet da lag, vorerst war er für Harry nicht mehr als das. Er hatte nichts damit zu tun. Er brauchte sich nicht darum zu kümmern. Er ging ihn nichts an. Wer immer David John Vennings Vater war, Harry konnte es nicht sein. Oder doch?
»Geburtsdatum«, murmelte Harry vor sich hin, während er zum Fußende des Bettes ging und ein Klemmbrett mit vielen Aufzeichnungen in die Hand nahm, das an einem der Gitterstäbe hing. »Damit das klar ist.« Und in gewissem Sinn war es dann auch klar. Wenn auch nicht so, wie Harry gehofft hatte. David John Venning. Geb. am 10. 05. 61. »Oh, verdammter Mist!« David John Venning war im Frühling nach dem Sommer von Harrys längst vergessener Affäre mit Iris Venning geboren.
2. Kapitel
Als er das Krankenhaus verließ, hatte Harry keinen ernsthaften Zweifel mehr daran, dass es sich bei dem komatösen Patienten im Zimmer E318 um seinen eigenen Sohn handelte. Nicht nur wegen des Zusammentreffens von Namen und Datum, nicht nur, weil die stolzen Eltern neben David Venning auf einem gerahmten Schulabschlussfoto auf dem Nachttisch als ältere Versionen des Claude, mit dem er gearbeitet hatte, und der Iris, die ihn vor vierunddreißig Sommern verführt hatte, zu erkennen waren. Es war zwar möglich, dass der Junge bei einem von Claudes Wochenendbesuchen zu Hause und nicht in den Tagen dazwischen gezeugt worden war. Möglich, aber unwahrscheinlich, vor allem angesichts von Harrys Meinung über Claudes Manneskraft im Vergleich mit seiner eigenen.
Doch all das war eigentlich nicht entscheidend. Was Harry letztlich überzeugte, war der Anruf. Jemand wusste, dass er tatsächlich Davids Vater war, und meinte, er solle über dessen Zustand unterrichtet werden. Und der war, wie eine Krankenschwester vorsichtig einräumte, ernst, sehr ernst.
David Venning war seit fast einem Monat im Krankenhaus und hatte die ganze Zeit in tiefem Koma gelegen. Was die Genesungschancen betraf, wollte die Schwester sich nicht festlegen. Sie misstraute offenbar Harrys Behauptung, er sei ein alter Freund der Familie, der irgendwie den Kontakt verloren habe. Wenn er Adresse und Telefonnummer der nächsten Angehörigen nicht kenne, so könne sie sie ihm auch nicht geben. Allerdings korrigierte sie ihn in einem Punkt: Davids Mutter hieß Iris Hewitt, nicht Iris Venning. Also geschieden oder verwitwet und wiederverheiratet. Nun, das Schulabschlussfoto war vermutlich vor mehr als zehn Jahren aufgenommen worden. So überraschend war das nicht. Armer alter Claude - so oder so.
Nur wenig mitteilsamer war die Schwester hinsichtlich der Ursache von Davids Koma. Sie sagte nur, es hinge mit Diabetes zusammen. Grausame Schicksalswillkür bei einem so gutaussehenden jungen Mann, und
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