Die Zauberlehrlinge
doppelt grausam, wenn man bedachte, dass sein übergewichtiger und immer kränklicher Vater im Grunde ziemlich fit geblieben war.
Harry zuckte zusammen, als er in einem der dunkler werdenden Fenster sein eigenes Spiegelbild erblickte. Er machte keine gute Figur. Nach dem Foto zu urteilen war Iris wesentlich ansehnlicher gealtert als er selbst. Aber das war wohl auch zu erwarten gewesen.
Eine mitfühlendere Lernschwester teilte ihm mit, Mrs. Hewitt besuche ihren Sohn jeden Nachmittag, gewöhnlich zwischen vierzehn und sechzehn Uhr. Wenn Harry sie sehen wolle, solle er es um diese Zeit versuchen.
Ob das klug wäre, erwog er später bei mehreren Bier in einem nahe gelegenen Pub. Vor vierunddreißig Jahren wäre er meilenweit gerannt, um Vater zu werden. Im Prinzip würde er das auch heute noch tun. Doch die ruhige, stille, wartende Gestalt in dem Bett hatte nichts mit Prinzipien zu tun. Sie war eine Person. Ein Körper und eine Seele. Ein Sohn, den er nie gekannt hatte. Ein Mann, den er nie getroffen hatte. Bis jetzt.
Und dann war da noch der Anruf, auf den er immer wieder zurückkam. Wer außer Iris konnte das gewesen sein? Sie allein wusste es sicher. Der Anruf musste von ihr gekommen sein. Und wenn das so war, dann war er eine Art Aufforderung. Ein Hilfeschrei vielleicht, eine Bitte um Unterstützung. Sie musste sich einige Mühe gemacht haben, um ihn aufzuspüren. Unter diesen Umständen konnte er sie kaum ignorieren. Aber warum, wenn sie es wirklich war, hatte sie weder Namen noch Telefonnummer hinterlassen? Warum diese Anonymität? Sie musste doch wissen, dass er dahinterkommen würde.
Vom Pub aus rief Harry Shafiq an und fragte, ob er bereit wäre, morgen die Schicht mit ihm zu tauschen. Zu einer Erklärung gedrängt, räumte er ein, es habe etwas mit den Besuchszeiten des Krankenhauses zu tun. Dann behauptete er, kein Kleingeld mehr zu haben, und legte auf, bevor Shafiq mehr tun konnte als zusagen.
Da der Tausch Harry zu einem unangenehm frühen Arbeitsbeginn zwang, ging er direkt nach Hause und hoffte, Mrs. Tandy sei schon zu Bett gegangen. Doch dieses Glück hatte er nicht. Sie war noch auf und damit beschäftigt, sich Kakao zu kochen und Sardinen kleinzuschneiden, um ihren Kater Neptun von einem benachbarten Dach zu locken. Obwohl Kakao nicht gerade das war, was Harry sich nach vier Bierchen, der plötzlichen Entdeckung eines Sohnes und dem fehlenden Abendessen wünschte, fand er sich schließlich Schokolade trinkend in der winzigen Küche wieder.
Mrs. Tandy stand derweil an der offenen Hintertür, rief nach Neptun und schwenkte die Schlüssel mit den Sardinen durch die Nachtluft, um seine Schnurrhaare von ihrem Duft erzittern zu lassen.
»Ich weiß nicht, warum ich mich mit diesem Kater abmühe«, seufzte sie. »Er wird besser behandelt als die meisten Kinder hier in der Gegend.«
Harry verschluckte sich an seinem Kakao und fragte sich unter Husten und Spucken, wie Mrs. Tandy die unheimliche Gabe entwickelt haben mochte, immer gerade über das Bemerkungen zu machen, was er am dringendsten für sich behalten wollte.
»Selwyn und ich waren nie mit Nachkommen gesegnet. Vielleicht, wenn wir Kinder gehabt hätten... Aber andererseits, man weiß ja nie, nicht?«
»Was denn, Mrs. Tandy?«
»Wie sie sich entwickelt hätten. Was aus ihnen geworden wäre. Ich glaube, sie sind genauso oft ein Fluch wie ein Segen.«
»Na ja, ich kann da wohl kaum mitreden, oder?«
»Nein.« Mit einem verwirrenden Glitzern in den Augen sah sie sich nach ihm um. »Nein, wohl nicht.«
3. Kapitel
Dienstag war Mrs. Tandys Scrabble-Tag. Für Harry bedeutete das, dass er ungesehen aus Mitre Bridge zurückkehren, ein Bad nehmen, sich rasieren und umziehen konnte, ehe er sich auf den Weg ins Krankenhaus machte. Ein solches mittägliches Herausputzen hätte Mrs. Tandy in höchstem Maß verdächtig gefunden, genau wie seine Alkoholabstinenz, die an Harrys Nerven zerrte, als er sich auf die Reise nach Bloomsbury machte. Ganz zu schweigen von dem halben Dutzend Rundgänge um Russell Square, die er absolvierte, während er den größeren Teil eines Päckchens Karelia-Sertika-Zigaretten rauchte. Er nahm sich vor, später bei Theophilus' Laden in der Nähe von Charing Cross Road vorbeizugehen und sich einen neuen Vorrat der exotischen griechischen Marke zu besorgen, für die er nach seinen Jahren auf Rhodos eine Vorliebe hatte. Doch ob er sich bei allem anderen, was er bald würde bewältigen müssen, an eine so banale Besorgung
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