Die Zauberquelle
nicht gewußt, daß Ihr tot seid«, sagte Gilbert de Vilers, der sich zu diesem Zeitpunkt eigentümlich körperlos vorkam.
»Oh, ich bin schon eine Ewigkeit tot. Seit drei Jahren. Ein Happen verdorbener Fisch sechs Tage vor der Karwoche. Aber seht Euch doch selbst an.« Der ehemalige Bruder Gregory blickte nach unten und sah einen vom Blitz verkohlten und gespaltenen Baum. Unter ihm lagen ein paar tote Bogenschützen und Urgan, der die knochigen Beine von sich streckte wie feuergeschwärzte Schürhaken. Und in sein Zaumzeug verstrickt lag da ein langer Kerl in voller Rüstung stocksteif und platt auf dem Rücken, das Haar unter dem Helm dunkel und verfilzt, Dreitagebart und ein verdreckter, durchnäßter Waffenrock mit dem Wappen der de Vilers…
»Einen Augenblick«, sagte Bruder Gregory, »das bin ja ich.« Er stellte fest, daß die Augen seines Leichnams offenstanden und tot und blicklos gar schauerlich starrten.
»Sieht der Kerl nicht scheußlich aus?« sagte der Abt. »Ich könnte Euch seine Sünden aufzählen – geistiger Hochmut, Überheblichkeit, Stolz, Völlerei…« Aber Bruder Gregory hörte nicht richtig zu. Godric war immer ein Tugendbold gewesen, und seine Kenntnisse von Aquinas waren praktisch null. Fürwahr, selbst Bruder Gregory hätte einen besseren Abt abgegeben…
»Ich habe diesen Leib sehr gemocht«, sagte Bruder Gregory.
»Aber jetzt schaut empor, Bruder Gregory, auch wenn Ihr es überhaupt nicht verdient.« Gilbert sah auf und erblickte Reihen um Reihen von Engeln in Samt und Goldbrokat, die wie schlafende Schmetterlinge die irisierenden Flügel flattern ließen. Zwischen den Engeln war eine Treppe aus Licht, und er merkte am Klang verlockender, von oben herabwehender Musik, daß er aufgefordert wurde emporzusteigen. Er stellte einen Fuß auf die Treppe, blickte aber noch einmal zu seinem Leichnam im Schlamm zurück. Rings um den Baum schmolzen jetzt die Hagelkörner, die sich wie Schneewehen zu Bergen türmten. Ein elender Tod im französischen Dreck, unwürdig, ehrlos und ohne Absolution. Das hatte er sich schöner vorgestellt. Doch jetzt wurde die Musik dringlicher, einladender. Bruder Gregory sah zu den schimmernden himmlischen Heerscharen empor. Er dachte gründlich nach. Er mußte sich an etwas erinnern.
»Im Augenblick kommt es mir ungelegen«, sagte er. »Margaret erwartet mich zurück. Ich habe ihr geschrieben, daß ich heimkomme.«
Godric, der ehemalige Abt, blickte angewidert. »Eure irdischen Gelöbnisse und Versprechungen sind jetzt null und nichtig«, sagte er. »Empor mit Euch.«
»O nein, das ist mehr als ein Versprechen. Margaret braucht mich. Wie soll sie es sonst schaffen? Die Kinder – meine Familie. Bei der wird sie wohnen müssen, und mit meiner Familie ist kein Auskommen. Mittlerweile dürfte ihr auch das Geld ausgegangen sein.« Er blickte zu der güldenen Schar empor und sagte: »Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. Ich meine, das hier habe ich mir immer gewünscht. Ihr wißt, daß ich darum gebetet habe. Aber obwohl es hehrer und schöner ist als alles – und mein innigster Seelenwunsch…« Er trat einen Schritt zurück und blickte voller Bedauern zu dem morastigen Stückchen Erde unter dem verkohlten Baum hinunter. Ob es weh tat, wenn man von so hoch sprang? Auf einmal umgab ihn strahlendes Licht, und eine seltsame Wärme durchströmte ihn.
»Warum tut IHR das für ihn? Seht IHR denn nicht, was er vorhat. Kehrt EUREM Himmel wahr und wahrhaftig den Rücken. Merkt IHR denn nicht, daß er unwürdig ist, genau wie ich EUCH gesagt habe?« so hörte Gilbert den Abt von weither zetern.
»Im Gegenteil, gerade darum ist er würdig«, antwortete eine alles erfüllende Stimme. »Armseliger, vertrockneter, selbstgerechter Godric, du stehst am Fuße MEINER Treppe und begreifst noch immer nicht, daß ICH Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bin. Bruder Gregory ist würdig, weil er einmal war, ist und sein wird. Würdest du so wählen wie er, frommer Mann? Wenn du endlich gelernt hast, daß es viele Wege zu MEINER Treppe gibt, lade ICH auch dich ein, sie emporzusteigen.« Abt Godric sah noch einmal hin und erblickte eine Menschenmenge, die die Treppe hochstieg: Priester und Nonnen, Kaufleute und Ritter, Pferdehändler und Tischler, Fischweiber und Wäscherinnen und…
»Da gehen ja auch Bruder Peter – und dabei habe ich viel strenger gefastet als er – und der gräßliche Braumeister, der sonntags das Ale aufgetischt hat.«
»Ach, Godric, Godric, du bist
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