Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
den Bauch zu Boden geworfen.
An diesem Tag war er nachmittags wieder einmal zu ihr ins Sanatorium gefahren. Gleich einem Ritual, von dem er nicht lassen konnte, war er in den vergangenen Wochen jeden Tag zu ihr gekommen und in gewisser Weise war er ihr noch nie so nahe gewesen wie in dieser Zeit. Jeden Tag zwischen drei und halb fünf hatte er an ihrer Seite gesessen, mit ihr gesprochen, auf die geringsten Regungen in ihrem wunderschönen Gesicht gewartet und dennoch nichts zurückbekommen. Kein Wort, kein Lächeln, nicht die allerkleinste Gemütsregung. So wie Raphael bis vor kurzem selbst gewesen war, so hatte er nun Eleanor zurückgelassen – in einer Welt die allein aus kilometerhohen Mauern bestand, zu hoch, um sie allein überwinden zu können. Ein Gefängnis, aus dem die See le nicht auszubrechen vermochte.
Die verantwortliche Stationsschwester hatte sich angewöhnt, Eleanor bei gutem Wetter in den rückwärtigen Besuchergarten zu bringen. Dort hatte sie an jenem Tag in einem Rollstuhl gesessen und trübe auf die Blumenbeete gestarrt als Michael dort eintraf. Er hatte sich auf die Parkbank neben ihr gesetzt und eine Weile still dort gesessen. Dann waren die ersten Worte zögerlich aus ihm herausgekommen.
„Ich wünschte, du würdest mich hören“, hatte er geflüstert. „Aber wahrscheinlich bist du in Gedanken bei ihm . Ich könnte wohl die Welt aus den Angeln reißen und du würdest es trotzdem nicht bemerken. Du würdest es einfach nicht sehen. Dein Kopf ist so voll von ihm, dass nichts anderes mehr hineinpasst. Wie kann das sein, dass erst jetzt, wo er fort ist, dein Geist so von ihm bestimmt wird? So sehr, dass von dir selbst nichts mehr übrig ist?“
Michael betrachtete Eleanor. Nicht die kleinste Gemütsregung war in ihrem Gesicht zu erkennen. Wie ein Mensch so vollkommen abschalten und sich aus seiner Umwelt zurückziehen konnte, war Michael völlig unbegreiflich. Auch er verging in Liebeskummer, seine Anwesenheit hier zeigte es doch. Und dennoch war ihm die Vorstellung fremd, wie Eleanor in Apathie zu verfallen und die Augen vor dieser Welt zu verschließen. Dafür war die Wut in ihm viel zu groß. Die Wut auf Raphael, die Wut auf das ungerechte Leben, die Wut auf sich selbst.
Er atmete tief durch. Das alles war pure Zeitverschwendung, so viel wurde ihm schlagartig klar.
„Ich könnte auch auf dem Mond sein, stimmt‘s?“, lachte er bitter auf. „Ich weiß nicht, was er mit deiner Seele gemacht hat. Aber es ist unnatürlich, so viel steht fest. Kein Mensch kann innerlich so unfassbar weit weg sein, dass er nicht wenigstens ein wenig von dem mitbekommt, was um ihn herum geschieht. Aber du siehst nichts, du spürst nichts. Es ist, als sei deine Seele ganz woanders und nur dein Körper sitzt neben mir. Wenn er dafür verantwortlich ist, dann hasse ich ihn dafür.“
Mit diesen Worten war er aufgestanden und hatte Eleanor im Garten zurückgelassen. Er hatte nicht vor, Stratton Hall jemals wieder zu betreten.
Bei dem Gedanken an diesen Tag schauderte es Michael. Beiläufig nahm er ein leeres Glas von seinem Schreibtisch und drehte es gedankenverloren in seinen Händen. Das Sanatorium und Eleanor verlassen zu haben bedeutete keineswegs, es auch innerlich losgelassen zu haben, so viel war ihm mittlerweile klar geworden. Nur mühsam widerstand er dem Drang, das Glas vor Wut mit Gewalt zu zerdrücken und so stellte er es behutsam wieder an seinen Platz. Seine Hand zitterte dabei.
Noch einmal seufzte er. Dann schnappte er sich ein T-Shirt von einem unordentlichen Häufen Wäsche und streifte es sich über. Er verließ sein Zimmer und machte sich auf den Weg nach unten in die Küche. Nach einem gelangweilten Blick in den Kühlschrank entschied er sich für ein Stück Brot, auf dem er lustlos eine Weile herum kaute. Um irgendetwas draufzulegen, fehlte ihm schlicht die Energie.
Er verließ die Küche und ging den Flur entlang, zurück zu seinem Zimmer. Dann jedoch überlegte er es sich anders. Einer plötzlichen Eingebung folgend öffnete er die Tür zum Keller. Dort unten hauste noch immer der Geist von Jonathan Towers. Ohne weiter darüber nachzudenken, stieg Michael die Stufen hinab und betrat den kleinen Kellerraum, in dem er den ruhelosen Geist wusste. Dank der Berührung durch Lilith und später noch einmal durch Raphael konnte er den Geist Jonathans ruhelos schwankend in der Ecke mit den Fahrrädern sehen.
„Hey, Arschloch!“, fauchte er den hellen Schatten an. „Hast du Spaß in der
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