Die Zehnte Gabe: Roman
wurde er während der Kolonialzeit von den Franzosen angelegt, nach dem Vorbild der Alhambra.«
»Ah.«
»Aber der Palast dahinter, heute ein Museum, wurde im siebzehnten Jahrhundert von Sultan Moulay Ismail gebaut. Ihr Vorfahr hat ihn möglicherweise gesehen, denn der Sultan hatte viele europäische Sklaven. Wann wurde er denn gefangen genommen?«
»Es war eine Sie. Der … Familienlegende nach war es im Sommer 1625.« Mein Instinkt riet mir, das Stickereibuch nicht zu erwähnen.
Er hob eine Braue. »Das ist früher, als ich gedacht hätte. Die
Republik Bou-Regreg wurde 1626 gegründet, und die Blütezeit der Beutezüge folgte erst ein paar Jahrzehnte später.«
»Oh.« Plötzlich war ich wieder voller Zweifel. »Vielleicht ist es nur eine Legende, oder man hat die Daten verwechselt.«
»Ich habe einen Freund an der Universität, den wir fragen können, wenn es Sie ernsthaft interessiert.«
Ich lachte nervös. »Eigentlich ist es bloß Neugier.«
Er sah mich streng an. »Sie sind ganz allein einen so weiten Weg gekommen, bloß aus Neugier?«
Wir bogen in eine schmale Gasse abseits der Hauptstraße ein, die sich steil zwischen hohen Häusern mit ummauerten Gärten entlangschlängelte, bogen erneut scharf ab und stießen auf eine Gruppe von Kindern, die sich um etwas scharten, was wie Gold im Sonnenschein glänzte. Ich bückte mich, um zu sehen, was sie so faszinierte, und die Kinder machten mir grinsend Platz. In der Mitte des Kreises hockten acht Tage alte Küken, die wie Popcorn durcheinanderhüpften und nach Körnern pickten, die die Kinder ihnen auf das Kopfsteinpflaster gestreut hatten.
Idriss kauerte sich neben mich. Er sagte etwas zu einem der Jungs, der laut loslachte, mit offenem Mund und vielen Zahnlücken, und irgendetwas erwiderte. Dann ergriff das Kind - ohne groß zu fragen - meine Hand, drehte sie um und setzte ein Küken hinein. Es stand unsicher da, seine winzigen Beinchen suchten unmerklich nach Gleichgewicht. Es wog praktisch nichts, und sein hellgelber Flaum leuchtete in der Sonne wie eine Pusteblume. Ich konnte den Schlag seines Herzens spüren, das im Gegensatz zu meinem eigenen raste. Dann legte Idriss mir die Hand auf den Arm, und es war, als hätte ein unter Spannung stehender Draht meine Haut berührt.
»Abdel sagt, Sie können es behalten.« Sein ernster Blick hielt den meinen fest.
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Solche Großzügigkeit von einem Kind - aber wie sollte ich reagieren? Idriss lächelte über meine Fassungslosigkeit. Dann scheuchte er das Küken
von meiner Hand zurück auf das Pflaster, kramte in seiner Tasche und gab dem Jungen ein paar Münzen, wobei er eine Hand auf dessen kahl geschorenen Kopf legte. » Tanmirt , Abdellatif. Besalama .«
Der kleine Vorfall veränderte den Rest des Vormittags, als wäre alles Weitere eine Folge seiner Magie und Leichtigkeit. Ich zerbrach mir nicht länger den Kopf über das Buch, seine Authentizität oder Michael, sondern gab mich Marokko ganz hin, seiner Wärme und Großzügigkeit, seiner Exotik und seiner zerfallenden, durchdringenden, stets präsenten Vergangenheit.
Es wäre in jedem Fall schwierig gewesen, den Tag nicht zu genießen, denn die Kasbah offerierte ein Wunder nach dem anderen: Ein Labyrinth winziger, gewundener Gassen, die von rau verputzten, blau oder weiß getünchten Häusern gesäumt waren, die Fenster mit fein gearbeiteten schmiedeeisernen Gittern verziert, die Türen aus verwittertem Holz und mit schweren Nägeln beschlagen. Lebendige Kaskaden von Bougainvillea, Jasmin und eine Fülle von Kletterrosen schmückten die Mauern.
Am Schluss kamen wir zu einer prächtigen Moschee mit einem schlanken Minarett, und hier blieb Idriss stehen. »Das ist die Jamaa el Atiq, gebaut im zwölften Jahrhundert von Sultan Yaqub Al-Mansur. Ich möchte Sie nicht mit Daten und trockenen Fakten langweilen, aber es lohnt sich doch der Hinweis, dass dies die älteste Moschee in Rabat ist.« Er blickte nach oben, und die harten Linien seines Gesichts wurden von der Sonne gemildert. Auch seine schwarzen Augen schimmerten plötzlich in einem satten Kastanienbraun.
»Können wir hineingehen?« Angesichts der äußeren Eleganz war ich neugierig, wie das Innere aussehen mochte.
Idriss blickte mich an. »Natürlich nicht.«
»Warum nicht?«, gab ich zurück. »Weil ich eine Frau bin?«
»Weil Sie keine Moslemin sind.«
»Oh.« Ich lachte, aber ohne Humor. »Eine Ungläubige.«
»In der Tat.«
»Reizend.«
»Kommen Sie.«
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