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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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schlief ich gut, wurde jedoch von seltsamen Träumen heimgesucht, die den weichen Gesang des frühmorgendlichen Muezzins in goldene Bänder verwandelten, die sich um mich schlangen. Ich lag da, halb wach, halb im Traum, und erschauerte in dem angenehm aufregenden Gefühl, allein auf diesem fremden Kontinent zu sein. Trotzdem fühlte ich mich sicher und geborgen, und als ich wieder einschlief, folgten noch vier Stunden traumloser Ruhe, bis ich endlich vom Zwitschern der kleinen Vögel und dem leisen Plätschern des Springbrunnens im Hof erwachte.
    Nach dem Frühstück lehnte ich mich mit einem starken Kaffee und meinem Marokkoführer zurück und lauschte dem Geplapper der beiden französischen Touristen am Nebentisch. Plötzlich fiel ein Schatten über mich.
    »Guten Morgen.« Es war Englisch mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte, möglicherweise amerikanisch. Ich sah auf. Er stand im Gegenlicht, sodass ich sein Gesicht nicht sehen
konnte. Als er sich bewegte, traf mich das Licht mit ganzer Wucht, und ich musste den Blick abwenden.
    »Was lesen Sie?«
    Ich legte das aufgeschlagene Buch auf den Tisch. »Der Exodus der aus Spanien verbannten Mauren nach Afrika setzte sich während des ganzen sechzehnten Jahrhunderts bis zum Ende des Jahres 1609 kontinuierlich fort. Dann beschloss Philipp III., alle verbliebenen Mauren ein für alle Mal von spanischem Boden zu vertreiben. Sein letzter Erlass im Januar 1610 war unmissverständlich und galt für alle. Mit ihm verlangte er, dass sämtliche Muselmanen, unabhängig davon, ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt oder für einen bestimmten Zeitraum zum Katholizismus übergetreten waren oder nicht, das Land sofort zu verlassen hatten, eine Entscheidung, die schreckliche Konsequenzen haben sollte. Die ersten Vertreibungen im vorangegangenen Jahrhundert hatten bereits einen heftigen Aufschwung der Piraterie im Mittelmeer zur Folge gehabt. Diese neuen, radikalen Maßnahmen machten die Weltmeere noch unsicherer und gaben der Wiederbesiedlung von Salé durch die Mauren, die die nächsten zweihundert Jahre die aktivsten Berberpiraten sein sollten, neuen Auftrieb.«
    Er hatte sich auf den unbenutzten Stuhl neben mir gesetzt, während ich diese Passage vorlas, und ein langes, in Leinen gehülltes Bein über das andere geschlagen. Ich spürte, dass er aufmerksam zuhörte, und als ich endete und aufsah, nickte er. »Eine annehmbare Zusammenfassung, wenn auch ein wenig dürftig, was die Details angeht, und nicht ganz zutreffend.« Er hatte ein düsteres Gesicht, kantig und zerfurcht, kurz geschorenes Haar und einen wissenden Blick. Ich schätzte ihn auf zwischen dreißig und fünfzig. Die lange, gerade Nase und die hohen Wangenknochen schimmerten kupferfarben und erweckten den Eindruck einer Wildkatze, kleiner als ein Löwe, gefährlicher als ein Wolf, doch wenn er lächelte, blieb von diesem beunruhigenden, raubtierähnlichen Eindruck nichts mehr übrig.

    »Wohnen Sie auch hier?«, fragte ich.
    »Das könnte man sagen. Ich bin so oft hier, dass es beinahe zu meinem zweiten Zuhause geworden ist.«
    »Das klingt, als wären Sie so etwas wie ein Marokko-Kenner.«
    Er senkte den Kopf. »Auch das könnte man sagen.«
    Seine scharfen dunklen Augen lachten mich aus. Und plötzlich wurde mir klar, warum. »O Gott, tut mir leid. Sie müssen Idriss sein. Ich dachte, Sie wären ein … ein Gast, der eins der anderen Zimmer bewohnt, wissen Sie, weil Sie so beiläufig an meinem Frühstückstisch Platz nahmen und so gut Englisch sprechen …« Jetzt errötete ich auch noch. Ich spürte, wie mir das Blut vom Nacken aufstieg, immer die schlimmste Form. Ich hatte ihn für einen Touristen gehalten, weil er normales Englisch sprach und deshalb unmöglich Marokkaner sein konnte. Und obendrein hatte ich vor einem frommen Moslem auch noch Gott gelästert.
    Er verbeugte sich. »Ich bin es, der sich entschuldigen muss, weil ich Ihr petit déjeuner so unhöflich unterbrochen habe, noch dazu, ohne mich vorzustellen. Gestatten Sie.« Damit streckte er mir die Hand entgegen. Als ich sie ergriff, schüttelte er sie sanft. » La bes . Idriss el-Kharkouri. Marhaban .« Dann führte er die gespreizten Finger zum Herzen. »Willkommen in Marokko.«
    Wir unterhielten uns eine Weile, dann ging er quer durch den Hof und kam etwas später mit einer frischen Kanne Kaffee und einem Aschenbecher zurück. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche? Eine schlechte Angewohnheit, aber viele Marokkaner haben sie. Eigentlich

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