Die Zehnte Gabe: Roman
Feigen und Aprikosen. Gewürze waren zu perfekten Pyramiden in leuchtenden Farben geformt
und verströmten einen durchdringenden, betörenden Duft - das Rot von Chili und Paprika, die satten Brauntöne von Zimt und Muskat, das blassere Beige von Kreuzkümmel und Ingwer, Gelb und Ocker von Kurkuma, Sternanis und Nelken. Plötzlich veränderten sich die Gerüche, und wir waren von Metzgereiständen umgeben, wo man Sachen verkaufte, die ich kaum glauben konnte: Kuhfüße, Ohren, Nasen, Schaf- oder Ziegenköpfe, von Adern durchzogene weiße Hoden, Stapel von Gedärmen.
»Igitt.« Ich hielt mir die Nase zu.
Idriss lachte mich aus. »Oh, ich vergaß Ihre westliche Empfindsamkeit. Kommen Sie, wir gehen hier entlang.«
Wir kamen an immer neuen verrückten Spektakeln vorbei - einer Frau im Kreis ihrer Gänse, Enten und Kaninchen, umlagert von Menschen, die ihr Abendessen bei ihr kauften. Bündelweise getrockneten Schlangenhäuten, die von den Deckenbalken hingen. Einem Käfig mit Affen und einem mit ein paar merkwürdigen Reptilien, die über ungewöhnlich bewegliche Augen und winzige handähnliche Klauen verfügten. Wir gingen ziemlich schnell, und so waren wir schon ein ganzes Stück weiter, ehe mir aufging, was wir da gesehen hatten.
»Waren das nicht Chamäleons in dem Käfig eben an der Ecke?«
»Ich glaube schon. Manche Leute benutzen sie gegen den bösen Blick.«
»Was soll das heißen, ›benutzen sie‹?«
»Wenn man ein bestimmtes Problem hat, kann man ein Chamäleon ins Feuer werfen. Wenn es explodiert, verschwindet das Problem ebenfalls. Wenn es aber einfach nur schmilzt, dann bleibt einem das Problem erhalten.«
»Sie machen Witze!«
»Wir Marokkaner sind sehr abergläubisch.«
»Die Engländer auch, aber ich glaube nicht, dass wir aus reinem Aberglauben ein lebendiges Tier ins Feuer werfen würden.«
»Nein? Und was ist mit all den Hexen, die ihr verbrannt habt? Ich glaube, Ihre Königin Elisabeth hat anlässlich ihrer Krönung sogar Katzen verbrannt.«
»Das ist nicht wahr!« Bei der Vorstellung, dass unsere vernünftige alte Queen etwas so Barbarisches tun könnte, musste ich laut lachen.
»Ich meine die erste Königin Elisabeth. Sie hat sie verbrannt, um zu beweisen, dass ihr Land von aller Hexerei geläutert war.«
Ich runzelte die Stirn. »Offenbar sind Sie eine Quelle für geheimes Wissen.«
Wir bogen um eine Ecke und erreichten einen Marktplatz. In der Mitte stand ein alter Mann vor einer riesigen altertümlichen Waage aus Messing. »Das ist der Wollmarkt«, sagte Idriss. »Der Souk el-Ghezel. Im siebzehnten Jahrhundert war er einer der Plätze, auf denen christliche Sklaven versteigert wurden.«
Ich stand da und betrachtete den alten Mann und seine Messingwaage. Mit seinem wallenden weißen Bart und der langen hellen Djellaba sah der Wollhändler aus, als sei er der Menge entsprungen, die bei der Versteigerung der Korsarengefangenen auf dem Sklavenblock zugegen gewesen war.
Was mussten diese Menschen von der kornischen Halbinsel Penwith, die nie gereist waren und völlig abgeschieden gelebt hatten, sodass die meisten nicht einmal den Fluss Fal, geschweige denn den Tamar überquert hatten, von dieser höchst sonderbaren Umgebung gedacht haben? Ich selbst war immer noch an jeder Ecke schockiert und überrascht, obwohl ich schon in einem Dutzend Länder dieser Welt gewesen war und im Fernsehen Bilder von unzähligen anderen gesehen hatte. Ohnehin traumatisiert von ihrer Entführung und den Schrecken der Überfahrt, müssen sie sich durch diese fremden Straßen bewegt haben wie in einem von Drogen herbeigeführten, psychedelischen Traum.
Idriss’ Berührung auf meinem Arm holte mich in die Gegenwart zurück. »Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen. Ich glaube, es wird Ihnen gefallen.«
Er führte mich um die Stadtmauer bis zu einem monumentalen Portalbogen, der sieben oder acht Meter hoch vor uns aufragte. Trotz seiner enormen Größe und des massiven Gemäuers war ich erstaunt über seine Schönheit, denn der Bogen schien über uns zu schweben, als würde er von einer unsichtbaren inneren Spannung zwischen den beiden Türmen rechts und links und dem fein gezeichneten Netz von mystischen, ineinander verschlungenen Mustern und Schriftzeichen gehalten.
»Das ist Bab Mrisa«, erklärte Idriss, während wir beide zu ihm emporblickten. »Der kleine Hafen. Im siebzehnten Jahrhundert, bevor der Fluss versandete und seinen Lauf änderte, segelten die Korsaren mit ihren Schiffen durch dieses Tor
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