Die Zehnte Gabe: Roman
Er nahm mich am Arm. »Ich zeige Ihnen, wo meine Vorfahren Ihre ungläubige Vorfahrin hingebracht haben.«
»Übrigens, die Christen bezeichneten die Muselmanen damals ebenfalls als Ungläubige«, sagte ich und folgte ihm durch das Gewirr der Gassen.
Immerhin hatte er den Anstand zu lächeln.
Auf der höchsten Stelle der Kasbah lag die Semaphore-Terrasse, ein riesiger Geschützstand mit einem herrlichen Blick auf das Meer und hinüber zu einer glänzenden weißen Stadt auf der anderen Seite des breiten Flusses.
»Unser Fluss heißt Bou Regreg - Vater der Spiegelung«, sagte Idriss und setzte sich auf die Mauer. »Ein schöner Name, nicht wahr? Ich weiß nicht, wer ihn so genannt hat, aber hier haben seit frühesten Zeiten Menschen gesiedelt. Drei unterschiedliche Stadtstaaten entwickelten sich hier. Da drüben, jenseits des Flusses, lag Slâ el Bali - das alte Salé, der Hafen, der dem wohlhabenden Fez diente. Im siebzehnten Jahrhundert wurde er zum Zentrum des Sklavenhandels dieser Region und zum Herzen des radikalen Islams. Auf der anderen Seite des Wassers« - er deutete hinter uns - »lag Rabat, wo sich meistens reiche jüdische und maurische Kaufleute niederließen. Wo wir stehen, befand sich Slâ el Djedid - das neue Salé. Als der spanische König Philipp die Mauren aus Andalusien vertrieb, kamen viele hierher zurück und machten sich daran, die aufgegebene Stadt wieder aufzubauen. Man empfing sie mit offenen Armen. Sie brachten einen erheblichen Reichtum mit - das und einen unversöhnlichen Hass auf die Christen, die sie verfolgt hatten. Der Herrscher über diese Region - Sultan Moulay Zidane - gab ihnen Geld, um die Stadtmauer und eine Garnison zu bauen, mit der die Festung geschützt werden sollte. Später wurde sie Kasbah Andalus genannt.
Anfänglich zahlten sie ihm die Schulden mit einem Zehnten aus ihren Frachterlösen zurück, doch es dauerte nicht lange, bis sie sämtliche Steuerzahlungen an den Sultan einstellten. Sie brauchten weder seine Hilfe noch seinen Schutz. Salé liegt strategisch sehr günstig: Die Straße von Gibraltar ist ganz in der Nähe. Hier mussten sämtliche Handelsschiffe hindurch wie durch ein Nadelöhr. Die Korsaren brauchten nichts weiter zu tun als die Schiffe anzugreifen, wenn sie auftauchten. Anschließend segelten sie zu ihrem Heimathafen zurück, denn sie waren schneller und kannten sich in den Küstengewässern besser aus als ihre Verfolger. Sehen Sie den Strudel da im Wasser?«
Ich folgte der Linie seines Zeigefingers und erkannte einen Gischtstreifen, der quer über die Mündung des Flusses verlief. Ich nickte.
»Unter der Oberfläche des Wassers versteckt sich eine Sandbank. Nur kleinere Boote mit flachem Kiel konnten die Mündung passieren, und wenn das die Fremden nicht aufhielt, dann die schmalen Fahrrinnen. Man musste sie gut kennen, um in ihnen navigieren zu können. Auf dem Grund liegen unzählige versunkene Schiffe aus der Fremde.«
»Warum haben sie dann angefangen, Menschen zu entführen?«
»Weil sie bald dahinterkamen, dass der Profit viel höher war, wenn sie die Mannschaften gefangen nahmen und auf Sklavenmärkten versteigerten. Außerdem brauchten sie Ruderer für die Galeeren, wenn sie ins Mittelmeer fuhren, um Beute zu machen.«
»Aber warum Frauen?«
»Was glauben Sie wohl? Aus demselben Grund, aus dem Männer schon immer Frauen geraubt haben.«
Ich errötete. Arme Catherine.
»Ich habe Hunger«, sagte ich plötzlich, um das Thema zu wechseln, und stand von dem Mäuerchen auf. »Was könnten wir essen?«
Er dachte einen Augenblick nach, wobei sich eine tiefe vertikale Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete. »Mögen Sie Fisch?«
»Klar.«
»Dann habe ich eine Idee.«
Wir stiegen hinab zum rechten Ufer des Flusses, wo mehrere hellblau gestrichene Boote mit hohem Bug auf den Strand gezogen worden waren. Auf einer improvisierten kleinen Mole standen die Leute Schlange, um einen Platz zu ergattern. Idriss reichte dem Fährmann zwei Münzen, half mir an Bord und stieg dann selbst ein. Der Fährmann, ein dunkelhäutiger, vollbärtiger Mann, der mich mit unverhohlener Feindseligkeit musterte, stakte uns in den Flusskanal und hinüber ins alte Salé, wo ich eine neue Welt betrat.
Männer in Djellabas, die Gesichter im Schutz der Kapuzen verborgen, Frauen, von Kopf bis Fuß verschleiert, sodass nur ihre Augen sichtbar waren, kein Europäer weit und breit. Gleich nachdem ich das linke Ufer betreten hatte, wickelte ich mein Haar zu einem
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