Die Zehnte Gabe: Roman
müssten wir alle an Lungenkrebs sterben, doch in Wirklichkeit rafft uns die Diabetes dahin.«
»Nein, nur zu.« Ich lehnte die Zigarette ab, die er mir anbot. »Warum Diabetes?«
»Haben Sie schon unseren Whiskey probiert?«
»Ich dachte, im Islam ist Alkohol verboten«, antwortete ich naiv.
Er grinste. »Wir bezeichnen unseren Pfefferminztee gern als ›marokkanischen Whiskey‹. Es macht das Gefühl der Entbehrung etwas erträglicher.«
»Milouda hat mir gestern Abend einen Tee gebracht. Er war …« Ich versuchte mich zu erinnern. »Ziemlich süß.«
Er lachte laut heraus. »Warten Sie, bis Sie zum ersten Mal sehen, wie viel Zucker in die Kanne kommt. Dann trinken Sie nie wieder welchen. Französinnen bekommen einen Anfall, wenn ihnen aufgeht, was sie während ihrer ganzen Ferien so ahnungslos in sich hineingeschüttet haben. Für uns aber ist Zucker mehr als ein Süßungsmittel: ein Symbol für Gastfreundschaft, Glück und Zufriedenheit. Ein junges Paar bekommt einen Zuckerhut als Teil seiner Morgengabe - das gehört zur Tradition. Unsere Wirtschaft gründete sich auf Zucker und Salz - Zucker aus dem Süden, Salz aus Taghaza in der Sahara; beides wurde mit Karawanen auf der Hauptroute zwischen Timbuktu und Marokko transportiert. Und dann verschiffte man es aus den weiter nördlich gelegenen Häfen - Essaouira, Safi und Anfa, aber auch hier aus Rabat-Salé - in alle Länder Europas. Ihre englische Königin Elisabeth, die sich den Spaniern widersetzte, hat viel Handel mit Marokko getrieben. Aber da ging es nicht nur um Zucker, sondern auch Salpeter, das man für die Herstellung von Schießpulver brauchte, Elfenbein, Silber, Gold und Bernstein, Honig aus Meknes und Bienenwachs. Und im Gegenzug haben die Engländer uns ihre Waffen verkauft, um Krieg gegen die Spanier zu führen.«
Es würde Spaß machen, mir von Idriss die Stadt zeigen zu lassen, entschied ich, denn trotz seiner äußeren Düsterkeit schien er eine Fundgrube an Informationen zu sein. »Was ist also schiefgelaufen? Warum haben die Piraten angefangen, die englischen Küsten zu überfallen, wenn wir doch einen gemeinsamen Feind in den Spaniern hatten?«
»Der Feind meines Feindes ist mein Freund, meinen Sie?«
Ich nickte.
»Ein altes arabisches Sprichwort …« Er zögerte. »Sie interessieren sich für die Korsaren von Salé - darf ich fragen, warum? Selbst in unserem Land ist es kein Thema, über das man viel spricht.«
»Eine Familienlegende«, sagte ich ausweichend. »Einer meiner Vorfahren wurde von Berberpiraten geraubt und auf dem Sklavenmarkt verkauft, so hat man es mir erzählt.«
»Das waren Korsaren«, korrigierte er mich. »Nicht Piraten.«
»Was ist der Unterschied?«
»Piraten sind Freibeuter, sie wirtschaften in die eigene Tasche. Die Korsaren aber brachten ihre Beute nach Hause und teilten das Geld, das sie verdient hatten, mit der Mannschaft, dem Schiffseigner und der Gemeinde. Es war ein sehr gut organisierter Handel, wie Sie sehen. Die Korsaren von Salé gingen mit Billigung des Staates auf die Jagd und wurden al-ghuzat genannt, wie die Soldaten, die einst an der Seite des Propheten Mohammed kämpften. Man feierte sie als religiöse Kämpfer, die den heiligen Krieg in die Gewässer der Ungläubigen trugen.«
Ich runzelte die Stirn. »Das hielt sie aber nicht davon ab, Handel mit den Ungläubigen zu treiben. Ganz schön scheinheilig!«
»Sehen Sie sich doch um«, gab er achselzuckend zurück. »Lesen Sie zwischen den Zeilen, wenn Sie Ihre Zeitungen aufschlagen oder Fernsehen schauen. Ist es heute wirklich so anders? Jahrzehntelang haben Europa und Amerika sowohl offiziell als auch auf dem Schwarzmarkt Waffen genau an die Leute verkauft, die sie heute als Terroristen bezeichnen. Krieg und Geschäft gehen immer Hand in Hand - das ist Realpolitik. Nichts ändert sich je wirklich, die menschliche Natur ist nun mal so, wie sie ist.«
»Und deshalb wiederholt sich die Geschichte wieder und wieder, wie in einem grausamen Kreislauf von Habgier, Korruption und verratenen Idealen?«
»Kommen Sie«, sagte er und stand auf. »Ich zeige Ihnen das, was Sie sehen wollten. Über Politik können wir beim Abendessen weiter sprechen.«
Abendessen? Das erschien mir etwas anmaßend. Ich warf ihm einen raschen Blick zu, doch er war bereits dabei, das Geschirr abzuräumen, mit einer lässigen Routine, die darauf schließen ließ, dass er jahrelange Erfahrung mit der Hilfe bei häuslichen Pflichten hatte. Und doch trug er keinen
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