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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Knoten und stopfte ihn unter den Strohhut. Wir gingen an einem Fischstand nach dem anderen vorbei, wo der Fang des Tages verkauft wurde. Männer saßen in ihren mit Blut und Schuppen beschmutzten Gewändern auf Schemeln, nahmen die Fische aus und filetierten sie, belagert von einem Seemöwenschwarm. Vorsichtig trat ich zwischen die stinkenden Lachen von Fischabfällen und fürchtete mich bereits vor meinem Lunch, doch Idriss führte mich am Ellbogen zu einem Café unter freiem Himmel am Ufer, und dort verspeisten wir wie Meereskönige den frischesten Fisch, den ich je gegessen hatte, zusammen mit großen Stücken Zitrone, frischgebackenem Brot, Butter und Öl. Am Ende leckte ich meine fettigen Finger ab und zählte die abgenagten Rückgräten, die sich auf dem Papier vor mir häuften. Fünfzehn. Ich starrte ungläubig darauf. Ich hatte fünfzehn Fische gegessen, und nicht alle davon waren klein gewesen. Idriss jedoch hatte einen erheblich größeren
Haufen als ich und aß immer noch konzentriert weiter. Offensichtlich war er fest entschlossen, nichts verkommen zu lassen. Er aß wie ein Besessener, wie einer, der nicht weiß, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekommt.
    »So«, sagte ich so beiläufig, wie ich nur konnte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.«
    »Was möchten Sie denn wissen?«
    »Haben Sie Brüder, Schwestern, Eltern … Schwiegereltern?«
    »Schwiegereltern?«
    So weit zur Diskretion. »Sind Sie verheiratet?«
    Idriss schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Waren es auch nie?«
    »Nie.«
    Er war nicht gerade mitteilsam. »Warum nicht?«, bohrte ich weiter.
    Er legte den Fisch auf den Teller zurück. »Es hat sich … nie ergeben.« Es entstand eine Pause, und ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte, doch dann unterbrach er das Schweigen: »Und Sie?«
    »Ah, nein. Aus demselben Grund.« Ich spürte, wie sich meine Lippen aufeinanderpressten, als wollten sie die hässliche Wahrheit für immer hinter die Gitter meiner Zähne sperren.
    Er hob die Brauen. »Das überrascht mich.« Seine dunklen Augen musterten mich mit derselben rücksichtslosen Zuwendung, mit der er seinen Fisch auseinandernahm. »Hier sagen die Leute: Eine Frau ohne Mann ist wie ein Vogel ohne Nest.«
    In diesem Augenblick kam der Kellner vorbei. Ich machte ihm heftige Zeichen, doch er sprach nur mit Idriss. Dieser fing an, in seiner Tasche zu kramen, doch ich schob ihm einen Zweihundert-Dirham-Schein über den Tisch. »Das geht auf mich, bitte.«
    Ich spürte den scharfen Blick des Kellners, der zwischen uns hin- und herschweifte, und konnte mir haargenau vorstellen,
was er dachte, aber in diesem Augenblick wollte ich nur noch weg von hier und unsere Unterhaltung wieder auf das zurückbringen, was ein für alle Mal tot und begraben war.
     
    Das mittelalterliche, heruntergekommene Flair des Ufers wich einem unvermuteten Schub in die Moderne, breiten Straßen, die mit französischen Villen aus der Kolonialzeit gesäumt waren, und dahinter erhoben sich die ockerfarbenen Mauern der Altstadt.
    Durch das Bab Bou Haja kehrten wir in die Medina zurück und erreichten einen weitläufigen Platz mit zauberhaften Gärten. Idriss führte mich hindurch und auf der anderen Seite in ein Viertel, dessen Gassen so schmal waren, dass sich die Häuser beinahe berührten. Kleine Geschäfte hatten sich in Nischen eingenistet und verkauften Haushaltswaren, Schuhe, Schmuck, Lebensmittel, Handys, Computerzubehör - es war verrückt, all diese Indizien der modernen Welt in einem so uralten Ambiente zu sehen. Verschiedene Gerüche hingen in der Luft: nach Fisch, der in diesem Teil der Stadt allgegenwärtig zu sein schien, nach Gewürzen oder Gegrilltem. Andere ließen sich weniger leicht identifizieren. Wir bogen in eine Gasse ein, und plötzlich lag alles im Schatten. Als ich aufsah, entdeckte ich, dass sie von einer Art Schilfdach geschützt war. Nach der nächsten Ecke standen wir mitten im Souk, dem traditionellen Markt. Er kam mir vor wie ein Ameisenhügel: eine wogende Masse aus Menschen, Lärm, Musik, Geschrei, Gelächter, brutzelndem Öl, alles innerhalb dieses Labyrinths von überdachten Gängen. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte: Die Sinne waren einfach überfordert. Alles Mögliche sprang mir ins Auge, während wir uns durch die drängelnden Einkäufer schlängelten - wunderbar gearbeitete Lederwaren, Schuhe und Slipper, Kleider, Messingwaren, Stapel von bunten Früchten, Oliven und Kerzen, Girlanden getrockneter

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