Die Zehnte Gabe: Roman
ist.« Sie zählte jeden einzeln an den Fingern ab. »Wenn andere aus der Familie nach Rabat kommen, wohnen sie auch bei uns. Solange du hier bist, gehörst du zur Familie.«
»Danke, das ist sehr nett von euch.«
Sie presste die flache Hand auf ihr Herz. » Barakalaufik. Ist unsere Ehre.« Als wir die gestreifte Decke über das Bett breiteten, setzte sie hinzu: »Badezimmer ist nebenan, dort kannst du dich vor dem Essen waschen. Komm einfach runter, wenn du fertig bist.«
Idriss’ Zimmer war spartanisch, das Bad hingegen mehr als bescheiden. Es bestand aus einer winzigen, von der Decke bis zum Boden gekachelten Kabine. Unten links sprang ein Wasserhahn aus der Wand, ziemlich weit oben ein Duschkopf aus Plastik. Ein Wassereimer, ein Holzschemel, Seife, ein Becher mit drei Rasierklingen, ein zerbrochener Spiegel an der Tür, ein kleines weißes Handtuch. Ein ominöses Loch im Boden vervollständigte die Szene. Sehnsüchtig dachte ich an das luxuriöse Badezimmer zurück, das ich im Dar el-Bedi zurückgelassen hatte und musste die Vorstellung mit aller Macht verdrängen. Verfluchter Michael.
In der Küche stand Idriss und arbeitete mit beiden Händen aromatisches Öl in einen dampfenden Haufen Couscous ein, umwabert von Dunstschwaden. Er sah aus wie ein Geist, der einer magischen Flasche entsteigt. Hinter ihm schöpfte seine Mutter mit einem Suppenlöffel eine herrlich duftende rote Flüssigkeit in eine riesige Schüssel aus Ton. Sie lachten und unterhielten sich laut auf Berberisch, bis sie plötzlich die Hände mit den Handflächen nach oben ausstreckte und Idriss die seinen darauf schlug, sodass die Couscouskörnchen durch die Luft flogen wie Stäubchen aus geschmolzenem Gold. Dann kreischten sie vor Lachen und schwatzten weiter, mehr wie Schulfreunde
als wie Mutter und Sohn. Ich kam mir wie ein Eindringling vor und wandte mich ab.
»Nein, nein, kommen Sie rein.« Idriss’ mandelförmige Augen glänzten. Er wirkte ganz anders als der wortkarge, grimmig dreinblickende Führer, der mich heute Nachmittag durch Salé geführt hatte. »Hier versuchen Sie mal - ist das zu scharf für Sie?« Er hielt mir einen Löffel der roten Flüssigkeit hin. »Europäer mögen Chili nicht so sehr.«
Ich probierte. Verschiedene feurige Aromen breiteten sich in meinem Mund aus. »Nein, das ist wunderbar. Was heißt ›köstlich‹ auf Berberisch?«
» Imim «, sagte er.
Ich berührte den Arm seiner Mutter. » Imim «, sagte ich und deutete auf die Sauce. » Imim, schukran .«
Ihr Gesicht verzog sich vor lauter Stolz zu tausend Falten, und dann redete sie auf Idriss ein, während ihre mit Khol umrandeten Augen immer wieder zwischen mir und ihm hin- und herschweiften. Idriss schüttelte den Kopf und versetzte ihr einen kleinen Klaps mit dem Löffel, worauf die Lautstärke ihrer Unterhaltung um ein weiteres Dezibel anstieg. Zuletzt scheuchte sie ihn aus der Küche, und er führte mich in einen kleinen Salon, der an allen Wänden mit Sitzbänken ausgestattet war. In der Mitte stand ein kleiner runder Tisch.
»Was hat sie gesagt?«
Er wirkte verlegen. »Ganz gleich, was ich ihr erklären will, sie scheint zu glauben, dass Sie meine Freundin sind.«
Jetzt war ich verlegen. »Ich hätte nicht gedacht, dass man hier ›Freundinnen‹ hat.«
Er sah mich neugierig an. »Was meinen Sie damit?«
Ich breitete die Hände aus. »Verzeihen Sie, aber ich weiß eigentlich nicht besonders viel über Ihre Kultur. In meinem Führer habe ich gelesen, dass Sex vor der Ehe in Marokko verboten ist. Besonders zwischen Marokkanern und Ausländern.«
Sein Gesicht wurde ganz ruhig. »Vieles, was verboten ist, passiert
trotzdem«, sagte er steif. »Aber es gibt einen gesellschaftlichen Kodex hier; die Leute versuchen, ihn zu respektieren. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen meiner Kultur und der Ihren.« Er zögerte, als wollte er einschätzen, ob der Schlag gesessen hatte, und fügte dann hinzu: »Meine Mutter findet auch, dass Sie sehr schön sind.«
Ich merkte, dass ich puterrot anlief. »Ich glaube, das hat noch nie jemand von mir behauptet.« Es war scherzhaft gemeint gewesen, als Antwort auf die unerwartete Äußerung, doch noch während ich es sagte, ging mir auf, dass es stimmte. Nicht einmal Michael hatte mir so etwas gesagt, in all der Zeit, die wir zusammen waren - Michael am allerwenigsten, denn er ging mit seinen Komplimenten ebenso sparsam um wie mit seinen Gefühlen und seinem Geld.
»Nun, dann haben Sie sich mit Leuten
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