Die Zehnte Gabe: Roman
umgeben, die die Wahrheit nicht mögen oder vielleicht auch nicht sehen wollen.« Und bevor ich etwas darauf antworten konnte, war er wieder verschwunden.
Als er zurückkam, trug er eine riesige Schale mit Couscous - einem spitz zulaufenden Haufen gelber Körner, mit Zucchini, Möhren, Kürbis, grünen Bohnen und Fenchel verziert und mit der glänzenden würzigen Sauce übergossen. Ihm folgten wie dem Rattenfänger von Hameln jede Menge Menschen, die alle durcheinanderredeten: seine Mutter Aïcha, drei Kinder (darunter auch das kleine Mädchen, das mich draußen angesprochen hatte), ein hochgewachsener, stiller junger Mann im Anzug, der mir als Aïchas Mann Rachid vorgestellt wurde, noch einer, der wie eine jüngere Version von Idriss aussah (»mein Bruder Hassan, das bedeutet hübsch auf Arabisch - passt zu ihm, nicht?«), strahlend lächelte, sehr charmant war und seine Sonnenbrille nach oben geschoben hatte, und ein älteres Paar (»mein Onkel und meine Tante«), der Mann in einer abgetragenen Djellaba und seine plumpe Frau mit eisengrauem Haar, die mich mit einem feierlichen Nicken begrüßte und
mir dann zuzwinkerte. Alle setzten sich um den Tisch, entweder auf die niedrigen Sitzbänke oder auf Lederpuffs, die aus anderen Zimmern herbeigeschleppt wurden, und fingen nach einem gemurmelten Gebet sofort an zu essen, indem sie mit den Fingern Couscous und Gemüse fachmännisch zu kleinen Bällchen rollten. Der ältere Mann machte einen großen Kloß aus der Mischung und warf ihn sich aus Armeslänge lässig in den Mund, sehr zum Entzücken der Kinder, die drauf und dran waren, es ihm nachzumachen, bis Aïcha sie zurechtwies. » Mange, mange «, forderte Idriss’ Mutter mich auf, stolz auf ihr Französisch.
Ich lächelte schwach und fing Idriss’ Blick auf. Er beobachtete mich erwartungsvoll, als wollte er sehen, wie ich mit dieser heiklen Situation fertig wurde. Ich riss mich zusammen. Jedenfalls würde ich nicht die weichliche Europäerin spielen und um einen Teller und eine Gabel bitten. Ich tauchte die Finger in den Körnerberg und hätte beinahe aufgeschrien, denn er war außergewöhnlich heiß. Dann kam ich auf die Idee, ein Stück Möhre als Löffel zu gebrauchen und schaffte es, einen großen Happen in den Mund zu bekommen, ohne alles auf dem Tisch zu verteilen.
Das Tajine im Dar el-Bedi gestern Abend war ausgezeichnet gewesen, doch das hier war ein ganz neuer Vorstoß in die Welt der Gewürze. Es schmeckte feiner als die thailändische, komplexer als die indische, anspruchsvoller als die chinesische Küche und war eine wunderbar köstliche Erfahrung.
»Hier.« Der junge Mann, der Idriss ähnelte, schob mir ein Stück weichen, orangefarbenen Kürbis zu. »Das Beste: Bei uns heißt er Käse der Berber.«
» Schukran .«
Alle nickten beifällig angesichts meiner Sprachkenntnisse, und bald pickten sie die leckersten Bissen aus dem Berg und drängten sie mir auf, bis ich nicht mehr konnte.
Später, sehr viel später, so schien es - nachdem ich die Fragen über mein Leben, meine Familie, meine Freunde, meinen Familienstand, das Leben in London, den Grund meiner Reise nach Marokko, wie ich Idriss kennen gelernt hatte und warum ich bei ihnen übernachtete, abgewehrt hatte -, stand ich auf der Dachterrasse des Hauses und rauchte meine erste Zigarette seit zwanzig Jahren. Sie schmeckte fürchterlich, aber ich rauchte sie trotzdem. An diesem Tag waren meine Nerven so oft überstrapaziert worden, dass ich das Gefühl hatte, das gewohnte Muster durchbrechen zu müssen, egal wie.
Idriss lehnte an einer Wand, und der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich in die stille Nachtluft. »Also Julia, erzählen Sie mir, warum Sie vor dem Mann flüchten, der sich als Ihr Ehemann ausgibt?«
Ich seufzte und zog ein letztes Mal an der Zigarette, um die Antwort hinauszuzögern. Seit wir das Dar el-Bedi verlassen hatten, hatte ich diese Frage erwartet und wusste immer noch nicht, was ich antworten sollte, ob ich diesem Fremden die Wahrheit sagen oder mir eine strategische Lüge ausdenken sollte. Unter uns erkannte ich die Reste eines kleinen Markts: gestreifte Planen, die lose über ein Gerüst gezogen waren, vom Wind verwehter Unrat, verstreutes Gemüse. Eine hagere Katze saß mittendrin, nachdem sie sich ihr Territorium für die Nacht zurückerobert hatte, und putzte ihr ausgestrecktes Bein. Am Ende sagte ich: »Ich besitze etwas, was er haben will. Etwas sehr Wertvolles.«
Im Dunkeln war es schwer zu sagen, ob seine
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