Die Zehnte Gabe: Roman
setzte Rob an, der bereits spürte, wie das schlechte Gewissen an ihm nagte. »Und viele andere arme Seelen, denen wir helfen könnten. Außerdem kann ich auch nicht einfach verschwinden,
ohne die Harris-Familie darüber zu unterrichten, wo ich bin. Sie waren gut zu mir. Sie würden sich Sorgen machen, wenn ich nicht zurückkäme, und Sir Arthur würde bestimmt nach London -«
»Halt! Wir gehen jetzt zu Hardwicke & Buckle, die diese Expedition ausrüsten, und unterwegs erkläre ich dir deine Rolle bei diesem Unternehmen. Du kannst deinem Dienstherrn von da aus schreiben und ihm deine Pläne mitteilen, aber du wirst niemandem von meiner Mitwirkung an deiner Entscheidung oder der Art der Geschäfte erzählen. Abgemacht?« Er streckte die Hand aus, und Rob ergriff sie mit klopfendem Herzen. Während sie so ihren Pakt besiegelten, hatte er das Gefühl, dem leibhaftigen Teufel die Hand zu schütteln, und nicht nur sein Leben, sondern auch seine Seele aufs Spiel zu setzen.
DREIUNDZWANZIG
D as Haus, zu dem Idriss mich brachte, lag in einer schmalen Straße am südlichen Ende der Medina. Kinder beobachteten uns neugierig, als wir an ihnen vorbeigingen. Idriss trug mein Gepäck. Ein kleines Mädchen, dessen dunkle Augen vom Schein der orangefarbenen Natriumdampflampen erhellt wurden, zupfte mich am Ärmel. » Baksheesh, Madame. Please. Por favor. «
Idriss sagte rasch etwas auf Berberisch, und die Kinder rannten kreischend und lachend davon.
»Das ist nicht das erste Mal, dass sie Touristen sehen«, meinte ich ironisch.
»Die kleinen Affen, sie wissen genau, dass sie nicht betteln sollen. Ich habe es ihnen oft genug gesagt.«
»Dann kennen Sie sie?«
»Es sind meine Nichten und Neffen, die Kinder meines Bruders Rachid und seiner Frau Aïcha.« Vor einer Holztür, deren blauer Anstrich längst abgeblättert war, blieb er stehen, schloss auf und führte mich hinein. Dieses Haus war mit der blendenden Eleganz von Dar el-Bedi nicht zu vergleichen. Das grelle Licht einer nackten Glühbirne erleuchtete einen schmalen Flur, dessen Wände bis auf halbe Höhe mit bunten geometrisch gemusterten Kacheln aus einer Massenproduktion bedeckt waren. Ich hörte fremde Stimmen aus den verschiedenen Zimmern dringen, und einen plärrenden Fernseher. Idriss rief etwas über das Durcheinander hinweg, und plötzlich erschienen zwei Frauen in einer der Türen und fingen an, laut auf mich einzureden. Sie stürzten auf mich zu und hüllten mich in eine Wolke
von Parfüm und Gewürzen, warmer Haut und bauschigen Gewändern. Unzählige Male küssten sie mich auf beide Wangen und drückten mir die Hände. » Marhaban, marhaban «, sagte die ältere immer wieder. Willkommen.
Schließlich ließen sie von mir ab. »Meine Mutter Malika«, sagte Idriss. Sie war eine Frau von undefinierbarem Alter; ihr Gesicht war von Runzeln gezeichnet und erinnerte an eine Höhenlinienkarte, auf der alle emotionalen Begebenheiten eines Lebens eingetragen waren. »Und meine belle-soeur , Aïcha, die mit Rachid verheiratet ist.«
Die zweite Frau grinste mir zu. Sie war jung - vielleicht Ende zwanzig - und trug einen Kittel, Jeans und einen hellen Seidenschal, den sie über ihr dunkles Haar zog. »Guten Tag«, sagte sie. »Idriss sagt, du bist Engländerin. Ich spreche Englisch ein wenig. Komm, komm mit mir. Ich zeige dir Zimmer.« Damit nahm sie mich bei der Hand und zog mich drei gekachelte Treppen hinauf zu einem Raum im obersten Stock. »Idriss’ Zimmer«, erklärte sie fröhlich. »Du schläfst hier.«
»Und wo soll Idriss schlafen?«, fragte ich nervös.
»Im Salon. Kein Problem. Ich bringe saubere Sachen.« Sie wuselte im Zimmer herum, zog mit gekonntem Schwung Laken und Decken vom Bett und verschwand. Ich blieb zurück und inspizierte mein neues Quartier. Ein Bett (schmal), ein Nachttisch, eine Lampe, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bücherregal, ein altmodischer Kerzenhalter, auf dem die Kerze halb heruntergebrannt war. Am Türhaken hing eine knöchellange Robe aus dunkelblauer Wolle mit einer spitzen Kapuze, wie ein Mönchsgewand, was den Eindruck, in eine Klosterzelle gestolpert zu sein, nur noch verstärkte.
Dann kam Aïcha mit frischer Bettwäsche auf dem Arm zurück. Als wir gemeinsam das Bett machten, fragte ich: »Wohnst du auch hier?«
»Natürlich. Die ganze Familie. Ich und mein Mann Rachid, unsere Kinder Mohammed, Jamilla und Laitifa, Idriss, seine
Mutter Malika, sein Bruder Hassan und unsere Großmutter Lalla Mariam, wenn sie nicht in den Bergen
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