Die Zehnte Gabe: Roman
beobachten, wie der Mond über den Dächern der Medina aufging. Wie lange ich dort saß, weiß ich nicht. Der Muezzin sang, und die Sterne kreisten. Ich dachte an Michael und daran, dass das Leben uns so weit gebracht hatte, dass er mich über Kontinente hinweg verfolgte, um ein Geschenk zurückzufordern, das das Ende unserer Affäre symbolisiert hatte. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich ihn mir nicht mehr vorstellen konnte. Seine Augen, ja, seinen Mund, die Form seines Kopfes, aber nicht alles zusammen. Ich konnte das Gesicht als Ganzes nicht erkennen, auch nicht einen einzigen Ausdruck. Was für ein Mensch war das eigentlich gewesen, mit dem ich die ganze Zeit eine Beziehung gehabt hatte? Je mehr ich versuchte, an Michael zu denken, umso mehr entglitt er mir, und
nach einer Weile begriff ich, dass allein das bezeichnend genug war. Ich hatte die letzten sieben Jahre in meiner Fantasie gelebt und eine Rolle gespielt mit einem Mann, der kam und ging, wie es ihm gerade passte.
Mit solchen Gedanken im Kopf ging ich schließlich zu Bett. Es war ein komisches Gefühl, zum ersten Mal seit Teenagerzeiten wieder in einem Einzelbett zu liegen, komisch, aber irgendwie auch tröstlich, so eingeschränkt zu sein. Trotzdem wälzte ich mich hin und her, und immer wieder wurde mein Schlaf von Bilderfetzen unterbrochen, wie ich in Rabat und Salé herumgelaufen war. Verschleierte Frauen und Kapuzenmänner verfolgten mich durch schmale Gassen, in deren Gewirr ich mich verlor, und stellten mich in einer Sackgasse mit lauter Türen, die sich nicht öffnen ließen.
Mitten in der Nacht war ich plötzlich überzeugt, dass mir jemand den ganzen Weg bis zu Idriss’ Haus gefolgt war, dass er ins Haus eingedrungen und sich in dieses Zimmer geschlichen hatte, in dem ich schlief. Ich fuhr auf. Schweiß rann zwischen meinen Brüsten hinab, mein Puls raste. Niemand war da. Mit hämmerndem Herzen legte ich mich wieder hin und zwang mich zur Ruhe, doch an Schlaf war nicht zu denken.
Letztendlich schwang ich die Beine aus dem Bett, tappte quer durchs Zimmer und zündete die Kerze an. Der Himmel, den ich durch die Ritzen der Klappläden sehen konnte, war pechschwarz: Bis zur Dämmerung würde es noch eine ganze Weile dauern. Ich beschloss, weiter in Catherines Tagebuch zu lesen, vielleicht könnte ich dann einschlafen. Ich stellte die Kerze auf den Nachttisch, damit ihr Schein auf das Buch fiel, dann zog ich meine Handtasche näher und griff hinein. Meine Finger tasteten durch den Inhalt: Brieftasche, Pass, Handy, Bürste, Schminksachen, Taschentücher, Kaugummi. Im zweiten Fach fand ich nur meine Stickerei, ein Notizbuch und einen Stift.
Das Tagebuch war verschwunden.
Mit einem Mal war mir eiskalt. Zuallererst dachte ich, dass mein Traum doch kein Traum gewesen war. Aber das war ganz sicher verrückt. Ich stand auf, strich über die Bettdecke, falls mein Gedächtnis ausgesetzt hatte und ich das Buch auf dem Bett hatte liegen lassen, bevor ich eingeschlafen war. Natürlich war es nicht da. Auch nicht auf dem Boden, auf dem Stuhl oder im Bücherregal. Angesichts der kargen Einrichtung konnte ich wirklich nirgendwo sonst nachschauen, und so blieb mir keine andere Wahl als anzunehmen, dass irgendwer - Michael? - tatsächlich ins Zimmer gekommen und es gestohlen hatte, während ich schlief.
Ich zog die Djellaba über T-Shirt und Unterhose, in denen ich geschlafen hatte, und bewegte mich durch das stille, dunkle Haus nach unten. Die ersten beiden Treppen trug mich meine Wut, doch als ich die dritte erreichte, wich sie der Unsicherheit. Im Erdgeschoss stockte mir das Herz. Flackerndes Licht tanzte über den gekachelten Boden und warf düstere Schatten an die Wand, sodass ich unwillkürlich an die Djinn aus 1001 Nacht denken musste, Geister, die aus rauchlosen Feuern erschaffen wurden und auf Quälerei und Zerstörung aus sind oder die Unvorsichtigen und Törichten verleiten. Ich holte tief Luft, verdrängte meine abergläubischen Ängste und ging direkt auf die Quelle des Lichts zu.
Es fiel durch die offene Tür des Salons, wo eine einzelne Kerze brannte und die Gestalt, die dort saß und ein Buch las, in goldenes Licht tauchte. Mein Buch: Catherines Buch.
Ebenso seltsam geistesgegenwärtig wie eine schläfrige Katze wandte sich Idriss genau in dem Moment um, als ich über die Schwelle trat. Wir setzten beide gleichzeitig zum Sprechen an.
»Was machen Sie -«
»Tut mir leid -«
Dann hielten wir inne und starrten uns an, jeder spiegelte die
Weitere Kostenlose Bücher