Die Zehnte Gabe: Roman
sie hingebracht hatte, um den Lösegeldbrief zu schreiben - doch dieses Haus war erheblich größer und schöner.
Was war das für ein Mann, der sie gekauft hatte? Wieder kehrten ihre Gedanken zu dieser Frage zurück. Dass er wohlhabend war, lag auf der Hand, aber sie kannte die Art von Unternehmen, die die Männer hier und wahrscheinlich überall auf der Welt reich machten: Reichtum war alles andere als gleichbedeutend mit Güte oder Anstand. Dennoch zeugte das Haus von Mäßigung und gutem Geschmack, von Stil und Eleganz. Wohin sie sah, legte es Zeugnis von hervorragender Handwerkskunst ab. Jede nur denkbare Oberfläche oder Materie war verziert - bis hin zu den Stuckleisten, die den Übergang zwischen den schimmernden Wänden und der hohen Kassettendecke aus Zedernholz markierte. Die Wände waren bis auf halbe Höhe mit stilisierten Sternenmustern gekachelt, ein Motiv, das sich im Schnitzwerk der Tür, den Fliesen am Boden und im Messing des Tischs oder den verzierten Gläsern wiederholte. Es war, das musste sie zugeben, ein hübsches Gefängnis. Nichtsdestotrotz ein Gefängnis.
Schließlich legte sie sich erschöpft hin und schlief ein. Als sie wieder aufwachte, stand die Sonne tief am Himmel, und sie hatte großen Hunger. Sie trat zum Fenster. Drei Frauen, darunter die beiden, die sie gebadet hatten, waren unten im Hof bei
der Arbeit. Eine kehrte den Boden, eine andere gab den Topfpflanzen frisches Wasser, und die dritte sammelte die Rosenblätter aus dem Bassin des Springbrunnens. Als sie sie am Fenster bemerkten, bedeutete eine der Frauen ihr herunterzukommen. Cat ging zur Tür, drehte den großen dort eingelassenen Eisenring und entdeckte zu ihrem Erstaunen, dass er sich öffnen ließ.
Sie tastete sich eine lange gewundene Treppe hinab und durch einen schmalen Gang, immer dem Licht folgend, bis sie im Hof stand. Die Frauen hielten in ihrer Arbeit inne und fingen dann alle auf einmal an zu plappern - leider in einer Sprache, die sie nicht verstand. Eine berührte mit dem Finger ihren Mund und tat so, als kaute sie. Cat nickte. Ja, sie war hungrig.
Sie brachten ihr frischgebackenes Brot und Honig, eine Schale mit klebrigen Datteln und mit Nüssen bestreuten Küchlein und eine Kanne mit süßem grünem Tee. Sie aß und trank, bis alles verschwunden war, und die Frauen unter großem Geschrei mehr heranschafften, bis sie protestierend die Hände hob. Dann setzten sie sich zu ihr und tranken mit ihr zusammen die zweite Kanne Tee, den sie in zierliche kleine Gläser einschenkten. Die größte der drei hieß Yasmina, die jüngste Habiba und die rundliche Hasna. Weil sie Schwierigkeiten mit der Aussprache ihres Namens hatten, gab sie sich mit Cat zufrieden.
»Wer ist der Mann, der dieses Haus besitzt?«, fragte sie, indem sie einen imaginären Turban um ihren Kopf malte, aufstand und den Gang eines Mannes durch den Hof imitierte, bis die Frauen sich vor Lachen bogen. Alles, was sie ihrer Antwort entnehmen konnte, war, dass er irgendwo unterwegs war, eine von ihnen mimte ein Pferd, das aber auch ein Boot hätte sein können. Keine der drei hätte das Zeug zu einer Pantomimin gehabt, schoss es Cat durch den Kopf. Doch er war ein reicher Mann, ein Händler und Krieger, folgerte sie nach einer Weile aus den Gesten der Frauen, obendrein gut aussehend, wenn man der errötenden Hasna glauben wollte, doch die anderen winkten
ab. Zu ernst, schauspielerte Yasmina, indem sie ein verschlossenes und ärgerliches Gesicht zog; zu alt, setzte Habiba hinzu, und zu traurig - dabei zog sie die Mundwinkel nach unten.
»Wann kommt er wieder?«
Keine wusste es.
»Was wird meine Aufgabe sein?«
Auch das wussten sie nicht. Doch am nächsten Tag öffnete sie ihre Tür und fand einen Korb aus Schilfrohr vor, der einen Ballen weißes Leinen, ein Dutzend Spulen farbiger Seide und mehrere feine Nadeln aus spanischem Stahl enthielt, die in einem Heftchen aus rotem Filz steckten. Der raïs musste mit ihrem Talent für das Sticken geworben haben, und ihr Käufer hatte beschlossen, es zu testen. Vielleicht wollte er sie am Ende doch nicht bloß als Mätresse.
Unten im Hof stieß sie auf Hasna und eine andere Frau und nickte ihnen zu.
»Guten Tag«, sagte die Frau und nickte.
Cat starrte sie an. »Du bist Engländerin?«
»Holländerin, um genau zu sein, aber ich spreche deine Sprache, und dein Herr bezahlt mich dafür, dass ich für dich übersetze.«
Cat merkte, dass sie einen seltsamen Akzent hatte und die Worte auf ungewohnte Art
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