Die Zehnte Gabe: Roman
Bestürzung des anderen wider. Idriss winkte mich herein. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und hören Sie sich das
an.« Und dann zeigte er mir die Seite, die er gerade gelesen hatte.
» ›Sie stellten mich auf den Block und öffneten das Gewand, um mein rotes Haar und die weiße Haut bloßzustellen. Sie priesen meine blauen Augen, meine Jungfreulichkeit und Reinheit, und viele Männer boten auf mich, als wäre ich eine Ware, bis ich verkauft war und zur Seite geführt wurde. Das war das lezzte Mal, daß ich meine Mutter oder Tante sah, ein grausamer Abschied, doch die schmerzlichste Trennung war die von meiner guten Matty, und wir beide schluchzten bitterlich, als sie mich mitnahmen …‹ «
VIERUNDZWANZIG
CATHERINE
M an hüllte sie von Kopf bis Fuß in ein dunkles Gewand und führte sie auf einem Maultier durch die Straßen des alten Salé. Nur ihre Augen waren frei geblieben; niemand konnte ihr Gesicht sehen. So bewegte sie sich durch die Menge, eine anonyme Frau auf einem halb verhungerten Maultier, das von einem schweigenden Mann geführt wurde. Dieser hatte ein hartes, wildes Gesicht, und auf seinem Kahlkopf glänzten Schweißperlen im Licht des stickigen Nachmittags. Seine Hände waren von der Sonne beinahe schwarz verbrannt. Er trug eine schmutzige weiße Robe, die er zwischen den Beinen hochgezogen und um den Gürtel geschlungen hatte. Als sie ihn fragte, wer sie gekauft hätte und wohin sie gingen, wandte er nicht einmal den Kopf. Hätte sie nicht die spitzen Knochen des Maultiers unter sich gespürt, wäre sie sich so unwirklich vorgekommen wie ein Gespenst.
Ihr Blick schweifte von links nach rechts - doch welchen Sinn hätte es, wenn sie ihr Heil in der Flucht suchte? Sie konnte nirgends hin, sie hatte niemanden, der ihr helfen würde. Die Vorstellung, an einen Fremden verkauft zu werden, war schrecklich, aber was für eine Wahl hatte sie? Durch eine fremde Stadt zu laufen, bis eine rachsüchtige Meute sie wieder einfing, deren Sprache sie weder verstand noch selbst beherrschte? Oder sich von der Stadtmauer ins Meer zu stürzen? Sie fröstelte. Noch wollte sie nicht sterben.
Sie verließen die Medina und gelangten schließlich zu einem breiten Flussufer. Dort wartete ein Boot, dessen Ruderer sich,
auf seine Stange gestützt, vor dem trüben Wasser des »Vaters der Spiegelung« abzeichnete. Als Cat ins Boot stieg, dachte sie an die Geschichten, die Lady Harris ihr von Charon erzählt hatte, der die Seelen der antiken Toten über das dunkle Wasser des Hades gefahren hatte, eine Fahrt, die den Verzicht auf ihr altes Leben und den Beginn einer neuen düsteren Existenz markierte. Ihr fehlte nur die Münze im Mund, dachte sie, sie und der Verlust ihrer Erinnerungen. Als der Fährmann das Boot am Ufer von Slâ el Bali abstieß, blickte Cat in das Wasser, das hinter ihnen Strudel bildete, und dachte an ihr altes Leben auf Kenegie mit seinen einfachen Pflichten unter Menschen, die sie zwar nicht immer hatte leiden können, im Großen und Ganzen aber wenigstens verstanden hatte. Sie dachte an die grüne und goldene Landschaft von Cornwall, das Gras, die Bäume, den Stechginster, den sanften Regen und den verhangenen Sonnenschein. Sie dachte an ihre verlorene Familie: ihren toten Vater, ihre toten Vettern, ihre Mutter, entblößt und grau. Dann wandte sie sich von diesem schmerzhaften Bild ab und dachte an Robert Bolitho, dessen Herz sie ausgeschlagen hatte, und fragte sich, ob sie sich je mit diesem einfachen Leben hätte abfinden können, das er ihr versprochen hatte. Es war, so dachte sie bitter, eine Frage, die sie sich nun nicht mehr zu stellen brauchte, denn sie gehörte zu ihrem alten Leben, und vor ihr lag ein neues, und so war es nun einmal. Es war besser, wie die Toten den Übergang zu akzeptieren und sich nicht mit einer Zukunft zu quälen, die niemals sein konnte. Cat biss die Zähne zusammen, und als sie sich umsah, ragten die Mauern von Slâ el Djedid vor ihr auf.
Am Ufer wartete ein anderer Mann, der die Zügel eines Tiers hielt, doch die beiden waren das krasse Gegenteil des Paars, das sie am Ufer des alten Salé verlassen hatte. Dieser Mann war hochgewachsen und trug ein langes rotes, mit Gold abgesetztes Gewand sowie einen scharlachroten Turban, der seinen Kopf und fast auch sein ganzes Gesicht verhüllte. Von einem vergoldeten Gurt über der Brust hing ein mit Juwelen verzierter
Dolch. Als er die Hand hob, um den Fährmann zu grüßen, klirrten an seinem Handgelenk silberne
Weitere Kostenlose Bücher