Die Zehnte Gabe: Roman
verkürzte. Sie streckte die Hand aus. »Ich heiße Catherine Anne Tregenna. Ich wurde an der englischen Küste gefangen genommen und hierherverschleppt.«
Die andere grinste und zeigte dabei drei Goldzähne. »Oh ja, das weiß ich bereits. Ich bin Leila Brink und wurde von meinem Ehemann hierherverschleppt, diesem Dreckskerl, Gott erbarme sich seiner Seele.«
»Oh, tut mir leid -«, stammelte Cat.
»Das braucht es nicht. Kein Mensch vermisst ihn, ich am allerwenigsten.« Ihre Augen, die sie im Stil des Landes mit Khol umrahmt hatte, glänzten fröhlich. »Nun, was hältst du von unserer Stadt, Catherine?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe die Sitten und Gebräuche nicht. Es ist alles zu fremd, um sich schon ein Bild zu machen. Ein … ein Mann hat versucht, mich auf dem Sklavenblock umzubringen«, erzählte Cat. »Er wollte mich erdolchen.«
Leila hob die Brauen und seufzte. »Noch so ein Angriff. Es gibt viele Fundamentalisten hier, für die die Gegenwart lebender Christen eine fortwährende Beleidigung darstellt. Bitte beurteile uns nicht nach diesen Wahnsinnigen.«
Das war zumindest tröstlich. »Kannst du mir etwas über den Mann sagen, der mich gekauft hat?«, fragte sie. »Wie heißt er? Bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen, ihn kennen zu lernen.«
Leila warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Er heißt Sidi Qasem bin Hamed bin Moussa Dib und ist ein großer Wohltäter und allseits respektierter Mann, wenngleich er ein recht schroffes Gebaren an den Tag legen kann.«
»Die Frauen haben gesagt, er sei Kaufmann und Soldat.«
»Das ist nur allzu wahr. Er hat einen Riecher für gute Geschäfte und ein gutes Auge für das, was zählt. Außerdem fördert er die Künste, da er keine Frau oder Kinder hat, für die er sein Vermögen ausgeben kann. Er wird dir ein guter Herr sein, solange du tust, was er von dir erwartet.«
»Und was erwartet er?«
»Er meint, du könntest meisterlich sticken.«
Cat errötete. »In England war das mein Ziel, aber ich hatte nie Gelegenheit, es richtig zu lernen.«
»Ich kenne mich ein bisschen damit aus. Mein Vater war Zunftmeister in Amsterdam. Die feinsten Arbeiten aus ganz Europa gingen durch seine Hände.«
Cat biss sich auf die Lippen. »Was will er von mir?«
»Komm, ich zeig es dir.«
Cat nahm ihren Korb und folgte der Holländerin und Hasna durch einen dunklen Gang und eine Treppe hinauf, die in schmalen Spiralen aufwärtsführte, bis sie einen kühlen, hellen
Arbeitsraum erreichten, in dem ein Dutzend oder mehr Frauen und Mädchen versammelt waren. In unregelmäßigen Abständen waren niedrige hölzerne Rahmen verteilt, vor denen die Frauen mit überkreuzten Beinen saßen, um sie zu bespannen. Auf einem runden Tisch lagen ein Ballen dickes weißes Leinen, weitere Spulen mit farbiger Seide, eine Schere, mehrere Rollen Papier und ein paar dünne Kohlestifte bereit. Alles war sehr ordentlich, und im Raum war es still wie in einem Klassenzimmer.
Sie lächelte den Frauen unsicher zu und setzte sich dann an einen der nicht besetzten Rahmen, wobei sie hin und her rutschte, um sich an die ungewohnte Stellung zu gewöhnen. Der Rahmen vor ihr hatte nicht viel Ähnlichkeit mit den runden Weidenholzrahmen, die sie von Kenegie kannte, mit seinem Federverschluss und der kleinen Oberfläche. Dieser war größer und primitiver, doch als sie den Kopf darüberbeugte, um ein Stück Leinen einzuspannen, merkte sie, dass er brauchbarer war, obwohl das überkreuzte Sitzen nicht dazu passen wollte. Als sie ein paar Sekunden später wieder aufsah, merkte sie, dass alle Frauen sie neugierig und erwartungsvoll beobachteten.
Sie blickte verwirrt zu Leila. »Warten wir auf einen Lehrer?«
»Es gibt hier keinen Lehrer, nur dich«, erklärte die Holländerin langsam. »Diese Frauen kennen nicht mehr als die einfachsten Muster vom Land. Sidi Qasem hat beschlossen, dass du ihr Repertoire erweitern sollst. Du wirst eine Art ma’allema sein, eine Lehrerin, aber nur fürs Sticken. Eine echte ma’allema wäre auch für ihre moralische Erziehung verantwortlich, das erwartet er selbstverständlich nicht von dir. Er hat andere Ziele.«
»Ziele?«, wiederholte Cat. Sie spürte, dass all diese dunklen, fremden Augen auf ihr ruhten.
»Die Königsstadt Fez macht Jahr für Jahr ein Vermögen mit feiner Stickerei, die sie in die ganze Welt verkauft. Es gibt dort dreitausend tiraz -Häuser, offizielle Stickereihäuser - erstklassige Arbeit, traditionell, wunderschön. Doch alle tiraz
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