Die Zehnte Gabe: Roman
ich und lebendig, und meine Familie hielt mich davon ab, völlig zu zerbrechen. Wir blieben noch eine Weile in Kontakt, nachdem sie in die Staaten zurückgekehrt war. Sie erzählte mir, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lassen würde, und fragte, ob ich Marokko verlassen würde, um mit ihr zu leben. Ich ging sogar zu ihrem Konsulat, um ein Visum zu beantragen, aber natürlich gaben
sie mir keins: Ein unverheirateter Moslem aus einem Land, das eine Reihe von gesuchten radikalen Fundamentalisten hervorgebracht hatte, wollte aus nicht näher bezeichneten Gründen kurz nach dem elften September in die Staaten einreisen? Ich hätte mir selbst kein Visum erteilt. Und natürlich konnte ich auch nichts von meiner Affäre mit Francesca erzählen: Sie war meine Dozentin an der Uni gewesen, und sie war verheiratet - unsere Beziehung war auf beiden Seiten ein Skandal. Man hätte mich deswegen ins Gefängnis bringen und ihr die Einreise verweigern können. Deshalb habe ich anschließend mein Studium aufgegeben und bin Taxifahrer geworden. Sieben Tage, rund um die Uhr habe ich geschuftet, nur um zu vergessen und meiner Familie mit Geld zurückzuzahlen, was sie mir an Unterstützung gegeben hatte. Das ist jetzt sechs Jahre her. Sie sehen also, ich verachte Sie keineswegs, Julia, denn auch ich weiß, wie es ist, wenn man sein Herz verliert, obendrein unter den ungünstigsten Umständen überhaupt.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war nicht schockiert - nur überrascht, denn Idriss wirkte auf mich nicht wie ein Mann, der sich von seiner Leidenschaft mitreißen lässt. Er hatte einen ruhigen und zurückhaltenden Eindruck gemacht, ein Mann, der sich unter Kontrolle hat und mit der Welt im Reinen ist. Wie trügerisch der äußere Schein sein kann! Ich vergaß, wo ich war, beugte mich über den Tisch und legte ihm die Hand auf den Arm. Er fuhr zurück, als hätte ich ihn verbrannt.
Die Leute sahen zu uns her. Offensichtlich war es ein Unterschied, ob ein Mann eine vom Hitzschlag getroffene Frau in die Halle trägt oder ob diese Frau sich in aller Öffentlichkeit auch nur zur kleinsten körperlichen Zärtlichkeit hinreißen lässt.
»Bevor Sie ohnmächtig wurden, haben Sie gesagt: Ich werde versuchen, alles wiedergutzumachen. Was haben Sie damit gemeint?«
Ich nahm mein Handy aus der Tasche und legte es zwischen uns auf den Tisch. »Ich kann nicht immer nur weglaufen. Es
gibt Dinge, denen ich mich stellen muss, die ich bereinigen muss, wenn ich kann.«
Michaels erste Nachricht lautete:
Warum hast du Hotel verlassen? Wo steckst du? Bitte ruf zurück. M.
Die zweite klang schon nervöser.
Muss dich dring. sprechen. Ruf an.
Ich löschte beide. Annas Nachricht kam als dritte. Ich hatte keine große Lust, sie zu lesen, aber es blieb mir keine andere Wahl. Ich schluckte und öffnete sie.
Julia, ich weiß alles, aber du bist trotzdem meine Freundin & ich muss mit dir reden. Es gibt etwas, was ich dir erzählen & dir zeigen will. Rufst du mich an?
Alles Liebe, Anna
Tränen stiegen mir in die Augen, und ich wischte sie mit dem Handrücken weg. Ich weiß alles, aber du bist trotzdem meine Freundin … Alles Liebe, Anna . Sie wusste alles. Sie wusste, dass Michael sie betrogen hatte, und zwar mit mir. Und doch hatte sie nach allem, was ich ihr angetan hatte, die Größe, etwas zu sagen, das mein Herz anrührte und mich an die Zeit erinnerte, als wir beide noch jung gewesen waren. Plötzlich begriff ich, dass ich in all den Jahren nicht Angst davor gehabt hatte, Michael zu verlieren, sondern dass Anna herausfinden könnte, was ich ihr angetan hatte. Michael und ich waren durch unser schlechtes Gewissen aneinandergekettet gewesen. Nun, nachdem alles ans Tageslicht gekommen war, sah ich plötzlich, wie schäbig es war. Es kam mir vor, als hätte man mir eine Last abgenommen. Endlich
war ich frei. Trotz meiner Schwächen, das wusste ich jetzt, verdiente ich etwas Besseres als einen Mann, der seiner Frau sieben lange Jahre lang Morgen für Morgen und Abend für Abend lächelnd ins Gesicht sehen konnte und dabei nicht aufhörte, sie zu belügen.
In diesem Moment und unter den Augen von Idriss wählte ich ihre Nummer und verabredete ein Treffen.
»Anna?«
»Julia? Liebe Güte, bist du es wirklich?«
Meine Hand flog zu dem Hijab. Ich grinste. »Ja, ich bin es wirklich. Und das ist mein Freund Idriss.«
Ich sah, wie sich ihre Augen weiteten, als Idriss auf sie zuging, den Kopf senkte und ihr die Hand küsste. »
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