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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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jüngeren Geschwister zu unterstützen? Nach den Maßstäben der Kultur, in der ich aufgewachsen war, besaß er so gut wie nichts, und doch war er reich an allem, worauf es ankommt.
    »Ich schäme mich entsetzlich«, sagte ich leise in die spröde Stille.
    Sein Blick schweifte langsam zu mir zurück. Bildete ich mir das nur ein, oder lag jetzt tatsächlich kalte Verachtung in diesen dunklen Augen?
    »Wir müssen gehen«, sagte er tonlos. »Khaled erwartet uns.«
    Den Rest des Nachmittags sagte er kein Wort mehr zu mir.
Das Café lag in der Rue de Bagdad, gleich hinter dem Hauptbahnhof. Khaled entpuppte sich als fülliger, untersetzter Mann von Mitte fünfzig. Er hatte ein glattes, faltenloses Gesicht und neugierig glitzernde Augen, trug eine weiße Gandurah und dazu - ziemlich unpassend - eine grüne Baseballmütze mit den Buchstaben ASS. Er griff nach meinen Händen und schüttelte sie herzlich. Als mein Blick immer wieder zu seiner Mütze wanderte, lachte er entzückt.
    »Gefällt Ihnen mein Hut? Es ist mein Lieblingshut«, sagte er in ausgezeichnetem Englisch fast ohne Akzent. »Ich trage ihn vor allem, um meine amerikanischen Studenten zu beeindrucken. Sie finden ihn umwerfend. Die Abkürzung steht für Association Sportive de Salé . C’est rigolant, non?«
    Idriss brachte ein halbherziges Lächeln zu Stande, während ich nur nickte und dankbar war, dass er die Spannung ein wenig auflockerte.
    »Wie bereits am Telefon gesagt, Julia hat ein Buch mitgebracht, das sie dir zeigen will, um deine Meinung zu hören«, begann Idriss, als wollte er die Aufgabe rasch hinter sich bringen. Er wechselte zu Arabisch und sprach sehr schnell, worauf Khaleds Gesicht plötzlich Entsetzen spiegelte. Ein paranoider Teil von mir stellte sich vor, wie Idriss ihm gerade erzählte, dass die Frau ihm gegenüber, die mit ihrem Hijab so unschuldig aussah, in Wirklichkeit eine ungläubige Ehebrecherin war, ein unmoralisches Geschöpf, das auf dubiose Weise in den Besitz eines Schatzes gelangt war, den es nicht verdiente. Sie sollten ihr das Buch abnehmen und sie in die Welt zurückschicken, aus der sie gekommen und wo ein solches Verhalten völlig normal war. Ich spürte, wie meine Wangen erneut aufflammten.
    »Darf ich mal sehen?«, fragte der Professor schließlich.
    Idriss lehnte sich zurück, mit verschlossenem, unnahbarem Gesicht, und zündete sich eine Zigarette an.
    Ich griff in meine Handtasche, nahm das Buch heraus und reichte es ihm. Bei seinem Anblick weiteten sich Khaleds aufmerksame
Augen. Er breitete eine Papierserviette über die Melaminoberfläche des Tischs, als könnten Jahrzehnte von verschüttetem Kaffee, Zucker und Asche sich wie durch Osmose in den Einband fressen und seinen Inhalt entweihen, und legte Catherines Buch ehrfürchtig darauf, als hätte er es mit einem religiösen Relikt zu tun. Seine Finger strichen über das Kalbsleder, berührten vorsichtig die Bünde auf dem Buchrücken. Dann öffnete er es mit unendlicher Behutsamkeit und begann zu lesen.
     
    » Incroyable .« Die vier Silben kamen eine nach der anderen und mit dramatisch gerolltem r.
    »Ist es echt?«, fragte ich.
    Mucksmäuschenstill hatte ich den größten Teil der letzten zweieinhalb Stunden dagesessen, es vermieden, Idriss anzuschauen, einen ungenießbar starken Kaffee geschlürft und mich nur auf den Professor konzentriert, der die Seiten umwandte und das Buch mal in die eine, dann in die andere Richtung kippte. Einmal hatte er eine Lupe aus der Tasche gezogen, ein anderes Mal ein kleines Wörterbuch. Er hatte gestaunt, gebrummt, seine Baseballmütze abgenommen und sich den Kopf gekratzt, wobei eine Halbglatze zum Vorschein kam, die er mehr schlecht als recht mit seinem spärlichen Resthaar zu verdecken suchte, er hatte auf Arabisch vor sich hin gemurmelt und dann auf Französisch etwas zu Idriss gesagt, das dieser mir nicht übersetzte. Einmal hatte er gelacht und ein paar Seiten zurückgeblättert, als suchte er nach einem Hinweis, bevor er weiterlas. Nun begegnete er meinem besorgten Blick mit einem breiten Grinsen.
    »Was meinen Sie mit echt?«
    »Oder ist es eine geschickte Fälschung, ein Schwindel?«
    »Es ist so echt wie Sie und ich, ma chère Julia .«
    In diesem Stadium, benommen von Hunger und Angst, kam ich mir eher unwirklich vor. »Entschuldigen Sie bitte, können Sie das etwas näher erläutern?«

    »Es gibt, soweit ich weiß, in keiner Sprache den Bericht einer weiblichen Gefangenen aus der frühen Zeit der Korsaren hier in

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