Die Zehnte Gabe: Roman
wir schüttelten uns die Hand. »Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer«, sagte er. »Dann können Sie mich anrufen, wenn Sie Ihre Entscheidung getroffen haben, einverstanden?«
Ich lächelte. Wir nahmen beide unsere Handys heraus, und ich diktierte Khaled meine Nummer, während ich gleichzeitig mein eigenes Gerät einschaltete. Auf dem Display erschien das Logo von Meditel, und nach ein paar Sekunden erklang ein kräftiger Piepton.
Sieben Anrufe in Abwesenheit.
Liebe Güte. Außerdem erwarteten mich drei Nachrichten: zwei von Michael, und eine - mein Herz raste los - von Anna. Ich ignorierte sie und tippte Khaleds Nummer ein, dann sperrte ich die Tastatur und verstaute das Handy in meiner Handtasche. »Ich rufe Sie an«, versprach ich dem Professor, bevor ich einen Schritt zurücktrat, damit Idriss und er sich umarmen und verabschieden konnten.
Als er aus dem Blickfeld verschwunden war, drehte sich Idriss zu mir um und sah mich an. »Und jetzt?«, fragte er plötzlich.
Es war das erste Mal, dass er mich ansprach, seit wir das kleine
Hotel, in dem sein Bruder arbeitete, verlassen hatten. Die Sonne brannte, und mein Kopf hämmerte unangenehm. Wir waren bis zu der Ecke gelaufen, die auf die Avenue Mohammed V mündete, und näherten uns der Gare de la Ville, bevor ich antworten konnte. »Ich habe wirklich alles vermasselt«, sagte ich jämmerlich. Mir war schlecht. »Und ich weiß, dass Sie mich dafür verachten. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, aber ich versuche, alles wiedergutzumachen, wirklich.«
Ich sah zu ihm auf, doch die Sonne stand hinter ihm, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Das Nächste, woran ich mich erinnere, war, dass sich die Welt um mich drehte, und ich am Boden lag. Vor meinen Augen tanzten schwarze Sterne.
»Julia!«
Er zerrte mich hoch und trug mich die Treppen in den Schatten der Bahnhofshalle hinauf. Kurz darauf saß ich auf einem orangefarbenen Plastikstuhl mit einem riesigen Stück Kuchen und einer Flasche Mineralwasser vor mir.
»Sie haben den ganzen Tag nichts gegessen«, sagte er streng.
»Sie auch nicht.«
»Ich bin daran gewöhnt und auch an die Sonne hier, im Gegensatz zu Ihnen. Ich glaubte, das Kopftuch würde helfen, aber die Hitze ist heute unerbittlich.«
Genau wie du, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
Ich biss in den Kuchen, kleine Mandelflöckchen rieselten auf den Teller. Über seine Schulter hinweg konnte ich sehen, dass die Abfahrt des nächsten Zuges nach Casablanca in fünfzehn Minuten angezeigt war. Gerade genügend Zeit, um einen Fahrschein zu kaufen und wieder einmal wegzulaufen. Der Gedanke war verlockend. Ich hatte meinen Pass und das Flugticket dabei, und die Tasche bei Idriss zuhause enthielt nichts, ohne das ich nicht hätte leben können. Ich konnte die Nacht in einem anonymen Hotel in Casa verbringen und am nächsten Morgen einen Flug zurück nach London nehmen, um mich in der neuen
Wohnung zu verkriechen. Und dann was? Und dann … meine Zukunft breitete sich vor mir aus wie eine große gähnende Leere. Glückliche Catherine, dachte ich. Jemand hatte sie so sehr geliebt, dass er ein Meer für sie überquert und sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um sie als seine Braut nach Hause zu holen. Statt sie quer über die Kontinente hinweg zu verfolgen, obendrein mit seiner Frau im Schlepptau, nur um ihr etwas abzujagen, das er ihr geschenkt hatte, um das Ende einer Affäre zu besiegeln.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Idriss plötzlich.
»Hitzeschlag.« Ich lachte kraftlos. »Nicht Ihre Schuld.«
»Das meine ich nicht. Für heute und dass ich nicht mehr mit Ihnen gesprochen habe, nachdem Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben. Ich hätte irgendetwas sagen sollen, aber ich wusste nicht, was. Sie haben ein paar schmerzliche Erinnerungen geweckt, und Sie haben mich mit Ihrer Offenheit beschämt.«
Einen Augenblick lang dachte ich, dass vielleicht seine Englischkenntnisse nicht ausreichten und er gemeint hatte, dass er sich für mich schämte, doch als ich begriff, was er tatsächlich gesagt hatte, redete er bereits so schnell, dass ich Mühe hatte, mitzukommen.
»Als Francescas Vertrag abgelaufen war und sie das Land verließ, war ich verzweifelt. Ich wollte sterben. Eine Weile glaubte ich, genau das würde passieren, und es wäre die beste Lösung für das Chaos, in dem ich lebte. Aber irgendwie hörte ich nicht auf zu leben, zu essen und zu atmen. Zwar war ich lange Zeit nur ein Schatten meiner selbst, aber ich war immer noch
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