Die Zehnte Gabe: Roman
der Apfel
hing zwischen ihnen. In den Ästen über Evas Kopf wand sich die grinsende Schlange.
»Cat, Cat!«, ertönte eine Stimme durch die Türritze. »Warum bist du nicht heruntergekommen? Ist dir unwohl?«
Seufzend klappte Cat das Buch zu und schob es unter die Bettlaken, damit niemand es sah. Die anderen Mädchen glaubten ohnehin, dass sie sich für ihre Stellung viel zu viel einbildete; warum sollte sie sich den Tag verderben und zulassen, dass sie sich über ihren Ehrgeiz lustig machten. »Ich komme«, rief sie zurück. »Ich bin gleich unten.«
»Die Köchin lässt dich nicht mehr in die Küche, wenn du nicht sofort kommst. Sie muss das Abendessen für die Gäste der Herrschaft vorbereiten. Dann kannst du auf dein Frühstück verzichten. Außerdem hat sie schon gesagt, dass es heute auch kein Mittagessen gibt, wir sollen genug Brot und Käse essen, um bis zum Abend durchzuhalten.« Mattys Stimme klang, als wäre sie angesichts dieser Vorstellung entsetzt. Sie war eher rundlich, und auf eine Mahlzeit verzichten zu müssen, war für sie so ziemlich das Schlimmste, was sie sich ausmalen konnte.
»Was für Gäste?«, fragte Cat neugierig.
Es folgte ein Augenblick verwirrten Schweigens im Flur, dann: »Weiß ich nicht genau. Ein paar Männer, die den Gouverneur besuchen wollen. Beeil dich, oder es ist nichts mehr da.«
Cat verdrehte die Augen. Typisch Matty, sie hatte nicht einmal gefragt. »Ehrlich gesagt, habe ich gar keinen Hunger«, sagte sie, zog ein sauberes Unterhemd an und zögerte dann. Wenn Sir Arthur Gäste erwartete, sollte sie sich vielleicht etwas mehr herausputzen. Sie legte ihr einfaches Arbeitskleid wieder hin und nahm aus dem Eichenschrank ein Kleid aus roter Wolle, das ihrer Mutter gehört hatte. »Komm, hilf mir mit dem Korsett.« Es konnte nicht schaden, zwei Paar Hände zu haben, um ihre ohnehin schmale Taille einzuschnüren.
Matty drückte vorsichtig die Tür auf. »Bist du auch ganz bestimmt
nicht krank?«, fragte sie erneut und musterte das ältere Mädchen, als suchte sie nach Anzeichen von Pocken oder Pest.
Cat entging ihr unverhohlen forschender Blick nicht. »Nein, du dumme Gans! Und jetzt mach schon, oder ich komme zu spät, um unsere Herrin zu bedienen, und du weißt ja, wie schnell sie sich aufregt.«
Lady Harris war in der Tat aufgebracht, doch das hatte nichts mit der Verspätung ihrer Zofe an diesem Morgen zu tun.
»Ich wünschte, mein Gatte würde mich rechtzeitig unterrichten, wenn wichtige Gäste ins Haus stehen«, erklärte sie, als Cat nach der Brennschere griff und sich der komplizierten Aufgabe zuwandte, die Halskrause ihrer Herrin zu plissieren. »Ich hatte meinen Tag bereits verplant, und jetzt muss ich der Köchin Anweisungen geben und den Speisesaal herrichten, dabei ist das gute Tischleinen eingepackt und garantiert voller Motten, und Polly hat eine fürchterliche Erkältung und kann nicht bei Tisch bedienen. Obendrein muss ich mich der Stellung meines Mannes gebührend kleiden. Oh, und die Buchsbaumhecken müssen gestutzt werden; der Garten ist in einem entsetzlichen Zustand, seit wir den armen Davey verloren haben. Was soll Sir Richard von uns denken, wenn er aus Lanhydrock kommt und unser ärmliches Haus sieht?«
Außerhalb ihres Blickfeldes hob Cat eine Augenbraue. Sir Richard Robartes lebte fast einen Tagesritt entfernt östlich vom abgeschiedenen Kenegie, knapp vor der Kreisstadt Bodmin im Osten. Sie fragte sich, was ihn so weit von zuhause wegführen mochte. Schon immer hatte sie sich brennend für alles interessiert, was mit dem Adel zu tun hatte, und wusste, dass dieser Gentleman vor ein paar Jahren das heruntergekommene Anwesen Lanhydrock erworben und sich sofort darangemacht hatte, mit ganzen Heerscharen von Gärtnern dessen weitläufige Ländereien neu zu gestalten. Bei diesem Vorhaben hatte er so viel Geld ausgegeben, dass im ganzen County die Leute getuschelt
und den Kopf geschüttelt hatten. Cat hatte erlebt, wie ihre Mutter das Gesicht zu einem charakteristisch spöttischen Grinsen verzog, wenn sie sich dazu äußerte, wie immer, wenn sie von jemandem sprach, den sie nicht leiden konnte. »Ein selbst ernannter Puritaner! Und dann wirft er sein Vermögen zum Fenster hinaus, indem er versucht, etwas zu verbessern, was der Herr in seiner ganzen rauen Schlichtheit so geschaffen hat, wie es ist! Heuchler, wie alle von seinem Schlag, mit ihrem scheinheiligen Gerede und ihrem privaten Dünkel. Mir ist ein ehrlicher Spitzbube tausendmal lieber
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