Die Zehnte Gabe: Roman
Schwanzfedern eines sagenhaften Vogels auf ein Stück helles Leinen stickte - einen Läufer für den Frisiertisch vielleicht, die Borte einer Bettdecke oder sogar das kurz erwähnte Altartuch. Dieser Auftrag faszinierte mich. Wie schön wäre es, wenn man im Wissen über seine Entstehungsgeschichte einen solchen Schatz wiederentdecken und vielleicht sogar den Fortschritt seiner Entwicklung auf den Seiten des kleinen Buches verfolgen könnte.
Liebevoll strich ich über das altersfleckige Titelblatt. Sechzehnhundertfünfundzwanzig, fast vierhundert Jahre alt. Als sechsunddreißigjährige, unverheiratete Frau hätte ich im siebzehnten Jahrhundert nur Mitleid und Spott geerntet. Eine Alleinstehende, eine alte Jungfer: unnütz für die anderen und ohne einen eigenen Platz in der Gesellschaft. Das war heute nicht viel anders, was mich nicht gerade fröhlich stimmte, aber was wusste ich denn wirklich über das siebzehnte Jahrhundert? In meinem Bewusstsein nahm es einen ziemlich verschwommenen Raum zwischen den ruhmreichen Tudors, dem Bürgerkrieg und der Restauration ein. Daher beschloss ich, mich über diese Epoche erst einmal zu informieren, bevor ich mit der Übersetzung von Catherines Tagebuch weitermachte.
Als ich mein Bücherregal nach etwas durchforschte, was mich weiterbringen könnte, fand ich einige Gedichtbände und Shakespeare-Stücke mit Erläuterungen, mehrere Penguin -Literaturführer und ein paar leichte philosophische Texte aus der College-Zeit - nichts von spezifischem Nutzen. Doch im verstaubten untersten Fach des Bücherregals im Gästezimmer stieß
ich auf ein Nachschlagewerk für Kinder in mehreren Bänden, das wahrscheinlich noch aus den Schultagen meiner Großmutter stammte. Als ich sie herauszog und auf den Fußboden stapelte, stieg mir ein Hauch von Moder und Gesichtspuder in die Nase. Es waren Gerüche, die ich mit meiner Kindheit in jenem Haus assoziierte, das meine Großmutter damals zusammen mit ihrer nörgelnden älteren Schwester bewohnt hatte, und ich fragte mich, ob dieser Duft echt oder eingebildet war, eine Erinnerung, die sich vielleicht nur durch die Assoziation mit dem Gegenstand selbst eingeprägt hatte. Als Kind hatte ich diese Enzyklopädie geliebt und stundenlang über den präzise gezeichneten Seiten zum Ausklappen verbracht, die den Querschnitt eines Apfels, eines Froschs oder einer Fliege zeigten, oder erklärten, wie eine Dampfmaschine oder ein mittelalterliches Schloss aufgebaut waren. Nun blätterte ich durch einen der Bände und entdeckte mehrere ausführliche, illustrierte Artikel über Kunstgeschichte, griechische Mythologie, die Anatomie des Menschen, den Trojanischen Krieg und das englische Feudalsystem. Zwei Bände weiter (im Anschluss an die Entdeckung des Penicillins, das Leben wilder Tiere in der Savanne, Chaucer und Galileo) fand ich das, wonach ich suchte.
Ich stellte die anderen fünf Bände ins Regal zurück und nahm den sechsten mit ins Wohnzimmer, wo ich es mir auf dem Ledersofa bequem machte und anfing zu lesen.
Eine Dreiviertelstunde später wusste ich alles, was ich brauchte. Obwohl sich das Nachschlagewerk als Kompendium des Wissens für Kinder ausgab, entpuppte es sich als spannende und, offen gestanden, anregende Lektüre, gespickt mit verblüffenden Details. Ich wusste, dass Jakob I. der Sohn der hingerichteten Königin von Schottland, Maria Stuart, war, nicht aber, dass er eine dänische Frau gehabt hatte und obendrein eine solche Unzahl von männlichen Günstlingen, dass die Leute sagten: »Elisabeth war König, jetzt ist Jakob Königin!«, als er den englischen
Thron erbte. Auch hatte ich nie davon gehört, dass Jakob ein armer und unbeliebter König war und trotzdem einen so extravaganten und kostspieligen Lebensstil pflegte, dass er das Land tief verschuldete. Am Ende musste er seine Titel und Ländereien verkaufen und konnte seine Kriegsflotte nicht mehr bezahlen. Trotzdem hatte er auf seinem gottgegebenen Recht beharrt, immer zu tun, was er wollte, und lieber das Parlament aufgelöst, als sich dessen Kritik gefallen zu lassen. Kurz zuvor hatte er versucht, seinen einzig überlebenden Sohn Karl mit der reichen spanischen Infantin zu verheiraten, und das in einer Zeit, als England entschieden protestantisch war. Die Spanier hatten diesen Heiratsantrag selbstherrlich abgelehnt, und der gedemütigte Karl hatte am Ende, nur wenige Monate vor dem Tod seines Vaters, die französische Prinzessin Henriette Maria geheiratet. 1625 hatte er mit
Weitere Kostenlose Bücher