Die Zehnte Gabe: Roman
würde meine kleinen Annehmlichkeiten hier nicht um alles in der Welt für die Pracht eines solchen Schlosses hergeben.«
Nun wandte sich Lady Harris von dem Anblick ab. Ihr fest geschlossener Mund bildete eine gerade, harte Linie. »Dieser Mount zerstört allmählich die Gesundheit meines Gemahls«, erklärte sie. »Er ist eine Last und eine Sorge, dabei sollte er es im Herbst seines Lebens etwas leichter haben. Seit dreißig Jahren steht er als streng loyaler und ergebener Untertan im Dienst der Krone, aber was hat er davon gehabt? Mit schönen Worten lässt sich nichts kaufen, und hübsche Fahnen mögen jemanden zum König ausrufen, sein Reich können sie nicht retten.«
König Jakob hatte dem Gouverneur die Union Flag geschickt, als Belohnung für seine »hervorragenden und treuen Dienste«, und ihn angewiesen, sie stets vom höchsten Punkt des Schlosses flattern zu lassen, als Zeichen seiner königlichen Gunst. Cat blickte ihre Herrin verwundert an, nicht nur wegen der ungewohnten Schärfe ihres Ausbruchs, sondern auch
wegen dessen Inhalts. Die Ankunft der Flagge war gewiss eine Auszeichnung gewesen: Solche Worte grenzten an Verrat. Zum Glück hatte niemand sie gehört.
»Ich könnte für Polly einspringen«, sagte sie, um die peinliche Stille, die entstanden war, zu überbrücken. »Wenn es Mylady beruhigen würde. Ich bin zwar nicht so erfahren wie sie, aber ich würde Euch sicher keine Schande machen.«
Lady Harris schüttelte den Kopf. »Ich möchte dich nicht darum bitten, Catherine. Es ist eine stundenlange, stumpfsinnige Aufgabe, und du könntest dir dein hübsches Kleid ruinieren.« Ihre Augen funkelten. Trotz ihres unscheinbaren Äußeren war Margaret Harris nicht dumm und hatte sofort bemerkt, dass ihr Dienstmädchen sein bestes rotes Kleid trug, weil sie wohlhabende Gäste erwarteten. »Aber dafür könntest du mir helfen, den Speisesaal herzurichten.«
In den nächsten beiden Stunden lief Cat in einer höchst unschmeichelhaften Schürze durchs Haus, fegte auf Geheiß ihrer Herrin die Fliesen, klopfte die Teppiche aus, polierte Stühle, Gläser und Messer, wechselte die Blumen, schüttelte die Motten aus, die sich trotz der streng riechenden Kräuter in der Wäsche eingenistet hatten, und setzte sich dann mit Nadel und Faden ins hellste Licht, das sie finden konnte, um die unzähligen winzigen Löcher zu stopfen, die sie in dem guten holländischen Tischtuch hinterlassen hatten. Matty rannte mit Lappen, Besen und einem mit heißen Kohlen gefüllten Brenneisen zwischen Küche und Speisesaal hin und her. Margaret Harris bezog im Salon Stellung, von wo sie die Köchin und Nell Chigwine beaufsichtigen konnte, die das am Morgen geschlachtete Lamm rösteten, Pasteten buken, Fischsuppe kochten, Früchte und Käse bereitstellten. Bei einem riesigen Brotauflauf, der mit kandierten Beeren bestreut war, legte sie sogar selbst Hand an. »Lauf in die Molkerei und bitte Grace um einen Krug frischen Rahm«, rief sie Nell zu, die sich gewissenhaft die mehligen Hände an der Schürze abwischte und die Abkürzung durch den
Speisesaal zum Hof nahm, der auf der anderen Seite von den Wirtschaftsgebäuden gesäumt war.
Als sie sah, wie Cat auf allen vieren vor dem Kamin hockte, um ihm den letzten Glanz zu verpassen, blieb Nell auf der Schwelle stehen und grinste verächtlich. Die beiden konnten einander nicht ausstehen.
Cat richtete sich auf und sah Nell geradewegs in die Augen.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als hinter mir herzuspionieren?«, fragte sie böse, sprang auf und streifte endlich die schmutzige Schürze ab.
Nell schürzte spöttisch die Lippen. Sie sah mit offenkundiger Abscheu auf Cat herab. »Ich habe den Dünkel dieser Welt gesehen, Catherine Tregenna. ›Ich sah alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.‹ Prediger Salomo, Kapitel 1, Vers 14.«
Cat lachte. »Es hat keinen Sinn, mir Sprüche aus der Bibel zu zitieren, Nell. Sie perlen an mir ab wie Wasser an einer Gans, und ich verstehe kein Wort. Entweder rede vernünftig mit mir oder lass mich in Ruhe.«
»Du solltest Erlösung durch den Herrn suchen, bevor es zu spät für dich ist. Du bist kaum besser als eine Heidin.« Nell stand vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt, unerschütterlich in ihrer Selbstgerechtigkeit. »Ich habe dich letzten Sonntag in der Kirche gesehen. Du hast den jungen Burschen schöne Augen gemacht und in dein Buch geschrieben, statt den Herrn um Vergebung zu
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