Die Zehnte Gabe: Roman
sie zu zählen. Plötzlich war die kleine Kirche von Lärm und der Hitze der Körper erfüllt. In der stickigen Luft war die Angst mit Händen zu fassen. Plötzlich tauchte mitten im Chaos eine hochgewachsene Gestalt auf, die sich durch die Gruppe von Männern am
Eingang drängte und den Mittelgang entlang nach vorn kam. Bei jedem Schritt schwang sein dunkelblaues Gewand kräftig aus. Die Piraten wichen zurück und machten ihm Platz. Seine Haut hatte die Farbe einer polierten Walnuss, und um den Kopf wand sich ein dunkelrotes Baumwolltuch, dessen gefaltetes Ende bis auf die Schulter fiel. Er trug einen silbernen Gürtel und schwere silberne Armreifen, und sein Krummschwert besaß eine kostbare Klinge aus Damaszenerstahl. Der Mann sah sich um, betrachtete die Leichen auf dem Boden, die heulenden Kinder, die zu Tode erschrockenen Frauen, die bleichen Männer. Er sieht aus wie ein Raubvogel, dachte Cat, mit seiner langen, geraden Nase und den scharfen schwarzen Augen - stark, beherrscht und rücksichtslos. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wenig später erwies sich ihr Instinkt als richtig, denn der Mann mit dem Turban rief den Piraten etwas in seiner Sprache zu. Sie beeilten sich, seinem Befehl zu gehorchen, fächerten sich auf und umstellten die Gemeinde. Er war inzwischen vor Vater Truran stehen geblieben. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, dann lachte der Pirat auf, trat geschmeidig wie ein Tänzer hinter den Geistlichen und hielt ihm die schimmernde Klinge an den Hals.
»Bleibt sitzen und schweigt, oder ich bringe euren Imam um!«, rief er in englischer Sprache mit einem schwerem Akzent.
Ein entsetztes Schweigen breitete sich aus, und alle nahmen wieder Platz, wie gehorsame Kinder, die von einem gefürchteten Lehrer beim Spielen erwischt worden waren. Voller Genugtuung ließ der Piratenanführer seinen Blick über sie schweifen.
»Ihr kommt mit uns«, erklärte er, »ohne Widerstand, ohne Kampf. Ihr kommt mit zu unseren Schiffen, und wir krümmen euch kein Haar. Ihr versucht zu fliehen, und wir töten euch. Versteht ihr das? Ist ganz einfach.«
Jemand stimmte ein Gebet an, sehr schnell, sehr ruhig. »Von Sturm und Blitz, von Seuche und Pest und Hungersnot, von Kampf und Mord und dem plötzlichen Tod, Herr, erlöse uns.«
»Rette uns, o Herr, rette uns.«
»O Gott, o Gott, o Gott.«
»Jesus, erlöse uns.«
»Nur zu, betet zu Gott«, sagte der Anführer der Piraten bedächtig. »Die Seele ist schwach, und beten tut ihr gut. Aber Schluss jetzt mit Jesus Christus, ist nur Prophet aus Fleisch und Blut wie ihr und ich, er kann eure Seele nicht retten. Jetzt steht auf und kommt mit, in Frieden.«
Einer der Piraten hob den Ratsherrn Polglaze auf, als wäre er nicht mehr als ein Sack voller Rüben, und warf ihn sich über die Schulter. Ein anderer befahl der benommenen Mistress Polglaze, aufzustehen, und stieß sie vor sich her durch den Mittelgang.
Niemand wehrte sich - niemand wagte es. Sie stolperten hinaus ins helle Sonnenlicht der menschenleeren Straßen von Penzance, von wo man auf einmal einen klaren Blick auf drei in der Bucht ankernde Schiffe hatte: eine prächtige Karavelle, deren aufgerollte Segel sich strahlend weiß vor dem türkisfarbenen Meer abzeichneten, und zwei kleinere, leichter gebaute Boote mit seltsamen, dreieckigen Segeln. Blinzelnd sah Cat sich um. Einzelheiten sprangen ihr ins Auge, widernatürlich und unglaublich real zugleich: eine Möwe, die seitlich durch den blauen Himmel schoss, als wäre alles genauso wie immer. Nan Tippets rote Schuhe, deren Absätze auf dem Kopfsteinpflaster klapperten wie Eselshufe. Henrietta Kellynch, die am Daumen lutschte und den Piraten anstarrte, der ihren Bruder Jordie mit der Spitze des Schwerts vor sich herstieß, als wären sie alle Teil einer ausgeklügelten Scharade, als würde der’ obby ’ oss jeden Moment mit seinen Flötenspielern und einer bunten Schar von maskierten Tänzern aus einer Seitenstraße herauskommen und alle zum Lachen bringen. Eine Schildpattkatze, die auf der Kaimauer saß und sie ohne Neugier beobachtete, während sie sich mit der Pfote das Gesicht putzte. Ihre blassgoldenen, feindseligen Augen. Der alte Tom Ellys, der sich mit beringter Hand
immer wieder über das Gesicht fuhr, und seine Frau, die an seinem Arm hing und fragte: »Was ist los, mein Lieber, warum nehmen sie uns mit, wo gehen wir hin?«
Ja, wohin eigentlich?, fragte sich Cat. Jemand stieß sie heftig in den Rücken, und als sie sich umdrehte, stand
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