Die Zehnte Gabe: Roman
kahlen Schädel und einen dichten weißen Bart. »Vom Himmel blickt der Herr herab auf die Erde, und alle Nationen sollen seinen Namen verehren und alle Könige der Welt seine Herrlichkeit«, fuhr er fort.
Mit glühenden Augen sah er einen Gläubigen nach dem anderen an, und die Gläubigen verschwanden einer nach dem anderen in der Kirche. Zuletzt blieb sein Blick an Annie Badcock hängen, die auf der anderen Seite der Kirchhofmauer stand. Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht der alten Frau, das runzlig war wie ein verschrumpelter Apfel. Der Ausdruck wirkte noch grotesker, weil ihre Augen in verschiedene Richtungen blickten. Das blinde Auge starrte ihn direkt an, das sehende hinaus auf die neblige Bucht.
»Wollt Ihr nicht hereinkommen, gute Frau, und Gott Euer Herz darbringen?«
Die alte Annie Badcock hob den Kopf und verzog das Gesicht zu einem zahnlosen Grinsen, das kleinen Kindern Albträume bescherte. »Nein, und Gott segne Euch, Priester. Ich bin weder irgendjemands Frau, noch bin ich gut! Ich bleibe lieber hier draußen, alte Sünderin, die ich nun mal bin, und rette meine Seele selbst.«
»Niemand außer dem Herrn kann Eure Seele retten, Alte.«
»Wie dem auch sei, ich mach mich jetzt auf den Weg, Walter Truran.« Und dann glitt ihr sehendes Auge in Cats Richtung. »Wenn du den Verstand benutzt, den Gott dir geschenkt hat, dann steigst du mit deinem jungen Mann wieder in die Kutsche
und lässt dich von ihm beschützen. Hör auf mich, mein Kind, sonst wirst du es noch bereuen.«
Einige Zuhörer lachten über Cats Verlegenheit, nur ihr Onkel reagierte zornentbrannt. »Hinweg mit dir, du stinkende alte Hexe, und hör auf, solchen Unsinn zu schwafeln. Na los, verschwinde!«
Einen langen Augenblick hielt die alte Frau Cats Blick stand, dann warf sie sich ihren Schal über den Kopf und verschwand.
Jane Tregenna schnalzte mit der Zunge. »Es wird wirklich Zeit, dass Penzance ein Tollhaus bekommt, so wie Bodmin, um solchen Abschaum wegzusperren.«
»Das ist nicht besonders christlich, Mutter«, sagte Cat böse. Was konnte der alte Besen bloß gemeint haben? Kannte Anne Rob etwa? Hatte er sie vielleicht zu dieser Äußerung angestiftet? In Gedanken versunken folgte sie ihrem Onkel in die Kapelle und nahm am äußersten Ende der Familienbank Platz.
»Ich will euch die acht wichtigsten Merkmale eines gottlosen Menschen erläutern!«, donnerte der Priester plötzlich, und die Gemeinde verstummte.
»Erstens, ein Mensch ohne Jesus Christus ist ein minderwertiger Mensch. Und wenn er auch von edlem Blut abstammt oder Sohn eines Prinzen ist - solange nicht das königliche Blut Jesu Christi in seinen Adern fließt, ist er ein Nichts.«
Er fixierte sie mit seinen hellen blauen Augen, bis sie sich vorkamen wie Schmetterlinge, die auf ein Brett gespannt werden.
»Zweitens, ein Mensch ohne Christus ist ein Sklave. So heißt es bei Johannes Kapitel 8, Vers 36: ›So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.‹ Denn wenn ihr nicht wollt, dass Christus euch aus der Sklaverei der Sünde und des Satans befreit, bleibt ihr Sklaven, Sklaven der Begierde, des Teufels und des Gesetzes!«
Eine Frau in der mittleren Reihe fing an, sich stöhnend hin-und herzuwiegen. Es war ein raues, abgehacktes Klagen, das gar nicht mehr aufhören wollte. Nell Chigwine. Cat seufzte. Reverend
Veale traktierte niemals seine Gemeinde mit so heftigen Worten: Er ermahnte sie, einander mit christlicher Nächstenliebe zu behandeln, und führte sie sanft durch die Gleichnisse und Psalmen. Sie wünschte, sie säße mit der Kenegie-Familie an ihrem üblichen Platz in der Kirche von Gulval, wo sie in ihrem kleinen Buch lesen …
Die Faust des Priesters fiel schwer auf die Kanzel nieder, und Cat fuhr zusammen.
»Fünftens ist er ein verkrüppelter Mensch. Ein Mensch ohne Christus ist wie ein Körper voller Wunden und Schwären. Er ist wie ein dunkles Haus ohne Licht, wie ein Körper ohne Kopf, ein solcher Mensch ist ein Krüppel.«
Der Priester dämpfte die Stimme und betrachtete sie sorgenvoll, als wären sie alle bereits verloren. »Sechstens ist er ein unglücklicher Mensch. Ohne Liebe zu Christus sind eure Errungenschaften nichts als Leiden und euer Glück nur Elend.
Siebtens ist er ein toter Mensch! Wenn man einem Menschen Christus nimmt, dann raubt man ihm sein Leben, und wenn ein Mensch seines Lebens beraubt wird, ist er nicht mehr als ein lebloser Fleischklumpen.«
Das Echo seiner Worte hallte unter den Deckenbalken
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