Die Zehnte Gabe: Roman
hoher See. Viele weinten, denn der Schock der Situation wurde noch verstärkt, als sie erkannten, wie viele andere ihr Los teilten - starke, kräftige Männer von überall im Westen, die nichts hatten tun können, um ihren Entführern zu entkommen. Und niemand hatte versucht, ihnen zu helfen.
Ein wenig später betraten mehrere Piraten das Unterdeck. Fast alle waren kleine, drahtige Männer mit funkelnden schwarzen Augen und rasierten Schädeln, auf denen nur schwarze Haarknoten stehen geblieben waren. Sie sprachen sehr schnell, in der harten, lauten Sprache ihres Landes. Die Rückseite ihrer Gewänder hatten sie zwischen den Beinen hindurchgeführt und vorn am Gürtel festgesteckt. Geschmeidig wie Katzen bewegten sie sich durch den Unrat und verteilten unter den Gefangenen Töpfe mit Wasser, trockene Stücke von dunklem Brot und jeweils eine Hand voll kleiner dunkler Früchte. Niemand sprach sie an. Alle nahmen das Brot und das Wasser entgegen und warteten, bis sie wieder weg waren.
»Esst und trinkt alles, was sie euch geben«, sagte eine Stimme. »Anders werdet ihr die Reise nicht überleben.«
Cat nippte an dem Wasser. Es war brackig und hatte einen ungewohnten, leicht säuerlichen Geschmack.
»Tunkt euer Brot in die Flüssigkeit, sonst brecht ihr euch die Zähne aus«, rief ein anderer Mann durch das Halbdunkel. »Und kümmert euch nicht um den Geschmack - ist nur Essig, jedenfalls sagen sie das.«
Als Nächstes steckte sich Cat eine der kleinen dunklen Früchte in den Mund und hätte sie fast sofort wieder ausgespuckt. Sie schmeckte bitter und salzig zugleich und hatte einen harten
Kern. So etwas Übles hatte sie noch nie im Leben gekostet. »Hier«, sagte sie zu der Frau neben sich. »Du kannst meine auch haben. Ich mag sie nicht.« Sie sah zu, wie die Frau in die schwarze Frucht biss und kaute und kaute, ohne dass sich der Ausdruck ihres Gesichts veränderte. »Es gibt Schlimmeres«, meinte sie schließlich. »Trockenfisch oder eingelegten Hering zum Beispiel, verschimmelten Käse und Seehundflossen. Was immer das sein mag, es ist gar nicht so schlecht. Aber wenn du nichts isst, mein Vögelchen, wirst du noch verhungern, und du bist doch ohnehin so schmal.«
»Wer sind diese Unholde? Was haben sie mit uns vor?«, jammerte eine Frau plötzlich mit lauter Stimme. Entsetzt ging Cat auf, dass es ihre Mutter war, und sie sah sich um, doch in der Dunkelheit konnte man kaum die Gesichter erkennen. Jedenfalls klang es nicht so, als wäre sie verletzt; das war schon ein Trost.
Ein Mann lachte. »Piraten aus Salé, und sie bringen uns in die Hölle.«
Daraufhin kam es zu neuerlicher Unruhe. Dann riefen mehrere Stimmen durcheinander: »Wo ist Salé?«
»Dick wird es euch erzählen - er war schon mal da. Dem Mann geht’s wie Jonah auf dem Schiff nach Tarsis, jawohl. Ein richtiger Pechvogel ist er. Erzähl ihnen deine Geschichte, Dick Elwith.«
Ganz hinten im Schiffsraum hörte man, wie sich jemand räusperte. Dann polterte eine tiefe Stimme durch das Dunkel: »Als ich klein war, erzählte mir mein Vater immer, dass diejenigen, die auf Schiffen die Meere befahren, die Wunder des Herrn sehen können, und so nahm ich mir vor, auf einem Londoner Handelsschiff anzuheuern, sobald ich erwachsen wäre. Genau das tat ich auch. Doch mein wahres Ziel war der schnöde Mammon, so mag der Herr mich verflucht haben, denn ich war von mehr getrieben als nur der Neugier auf seine Schöpfung und dem Wunsch, seine Werke zu bewundern und ihm zu huldigen.
Ich wollte mein Los im Leben verbessern und durch Handel ein reicher Mann werden, aber das sollte mein Schicksal nicht sein. Anno sechzehn achtzehn wurde ich zum ersten Mal gefangen genommen. Unser Schiff war mit einer Ladung Salz und Rindfleisch nach Madeira unterwegs, doch am frühen Morgen, als wir nur noch achtzig Meilen vom Cabo da Roca entfernt waren, entdeckten wir auf der Luvseite ein Segel, das Jagd auf uns machte. Wir flohen, so schnell wir konnten, vergeblich, sie kamen uns näher, ganz gleich, welchen Kurs wir nahmen oder wie schwer wir es ihnen machten. Zu guter Letzt, als der Mond aufging, waren sie so nahe, dass sie zu uns herüberriefen und fragten, woher unser Schiff stammte. ›Aus London‹, antworteten wir, und als wir ihnen dieselbe Frage stellten, antwortete der Kapitän: ›Aus Salé‹, und lachte, und da ging uns auf, dass es ein türkisches Piratenschiff war, und wir feuerten eine Breitseite ab, doch es gelang ihm auszuweichen. Wir versuchten, in alle
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