Die Zehnte Gabe: Roman
schäbig und schmuddelig, und als Michael die Tür aufstieß, schlug uns ein durchdringender Gestank nach Moder und Schimmel entgegen. Die niedrigen Decken waren gelb, nicht nur vom Alter, sondern auch vom Nikotin. Der alte Vormieter musste Pfeifenraucher gewesen sein. Die Sessel waren fleckig und hatten abgewetzte Armlehnen. Einer war hinten bis auf die Füllung aufgerissen, offenbar hatte eine Katze ihn benutzt, um ihre Krallen zu schärfen.
»Das arme Ding«, sagte Alison. »Es braucht dringend jemand, der sich darum kümmert, findet ihr nicht?« Eine Sekunde
lang glaubte ich, dass sie ein Haustier entdeckt hatte, das nach dem Tod des Herrchens allein herumstreunte, bis ich begriff, dass sie das Haus meinte.
Michael grinste schief. »Das hat die Maklerin auch gesagt, allerdings dachte ich, mit einem Eimer Farbe und einem neuen Teppichboden wäre die Sache erledigt.«
»Ach, Makler«, meinte Alison und verdrehte die Augen. »Was verstehen die schon davon?«
An einer der Wände standen übereinandergestapelte Kisten, auf die jemand Bücher oder Geschirr gekritzelt hatte. Michael machte sich sofort darüber her. Er nahm die oberste Kiste herunter, breitete den Inhalt auf dem Boden aus und stöberte gierig darin herum. Vermutete er weitere Schätze wie den Stolz der Stickerin darin? Ich hockte mich neben ihn, um mir anzusehen, was er zu Tage förderte. Die oberste Kiste enthielt alte, vergilbte Taschenbücher, die längst nicht mehr modern waren - Romane über den Zweiten Weltkrieg und amerikanische Krimis mit grellen Einbänden. Nichts von Belang.
»Seit wann ist dieses Haus eigentlich im Besitz von Annas Familie?«, fragte ich desinteressiert.
Michael runzelte die Stirn. Er nahm ein gebundenes Buch mit schlichtem Einband, das aus einer Bibliothek stammte, blätterte bis zum Titelblatt, überflog es, schüttelte es aus, falls irgendetwas darin versteckt war, und legte es zu den anderen. »Oh, seit einer Ewigkeit. Ich weiß es nicht.«
»Hier sieht es aus wie in einer anderen Zeit«, bohrte ich weiter. »Ist Anna denn nie hier gewesen?«
Er sah hilflos zu mir auf. »Soweit ich weiß, nicht. Warum auch?«
»Na ja, ich an ihrer Stelle hätte mir mein Erbteil wenigstens ansehen wollen. Nicht besonders christlich, jede Woche Miete zu kassieren und das Haus einfach verfallen zu lassen. Der arme Alte, der hier gewohnt hat, tut mir leid.«
»Hör zu, ich habe nichts damit zu tun. Ich bin nur gekommen,
um nachzusehen, was noch da ist, und sicherzustellen, dass die Leute, die hier aufgeräumt haben, nichts Wichtiges übersehen haben.«
»Wie das Buch, das du mir geschenkt hast?«
Catherines Büchlein steckte in meiner Umhängetasche. Es sandte derart starke Signale aus, dass ich beinahe überrascht war, dass Michael nichts von seiner Gegenwart bemerkte.
»Hört auf zu streiten«, ging Alison dazwischen. »Komm, Julia, wir schauen uns mal ein bisschen um.« Sie nahm mich am Arm und drängte mich aus dem Zimmer. Wir mussten die Köpfe einziehen, um nicht gegen den Türsturz zu stoßen, und standen in einer kleinen, dunklen Küche.
»Könnt ihr nicht wenigstens versuchen, etwas zivilisierter miteinander umzugehen?«
Ich schnitt eine Grimasse und wünschte, ich wäre nicht mitgekommen. Es fiel mir leichter, meine Wunden zu lecken, wenn Michael nicht dabei war. Außerdem steckte mir Cats Geschichte in den Knochen. Plötzlich hatte ich das übermächtige Bedürfnis, mit ihrem Buch in die Sonne zu laufen, raus ins Freie.
»Ich glaube, ich mache einen Spaziergang«, sagte ich zu Alison. »Ich habe Kopfschmerzen.«
Sie wirkte überrascht. »Oh, klar. Hast du was dagegen, wenn ich noch bleibe?«
»Mach, was du willst.« Es war unhöflich, aber ich hatte keine Lust, mir Mühe zu geben. Ich war immer noch wütend, dass sie Michael ermuntert hatte, herzukommen.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Michael bei der dritten Kiste angelangt.
»Irgendwas Interessantes?«
Verbissen schüttelte er den Kopf. »Nur jede Menge Mist.«
»Geschieht dir recht«, murmelte ich und marschierte zur Tür hinaus.
Ich zog also los, um ein einigermaßen ruhiges und sonniges Plätzchen zu finden, wo ich mich hinsetzen und weiterlesen konnte, aber schon nach wenigen Metern winkte mir eine winzige alte Frau zu. Beim Näherkommen fiel mir auf, dass sie schielte - das linke Auge sah in eine völlig andere Richtung als das rechte. Verlegen, als hätte ich fälschlicherweise auf ihre Geste reagiert, während sie in Wirklichkeit jemand
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