Die Zehnte Gabe: Roman
anderen meinte, drehte ich mich um, doch außer mir war kein Mensch auf der Straße. »Hallo«, sagte ich vorsichtig.
Sie kam den Hügel herab auf mich zu. »Sie suchen etwas, Schätzchen.«
»Nein, ich sehe mir nur die Gegend an.«
Ihr lächelndes Gesicht war weich gerunzelt wie das Leder auf einem alten Chesterfield-Sofa. Ein Auge sah über meine Schulter hinweg, das andere blieb an meinem Kinn hängen. Es machte mich nervös, ich hatte keine Ahnung, auf welches ich reagieren sollte. Sie beugte sich zu mir. »Ich weiß, dass Sie etwas suchen«, beharrte sie und tätschelte meine Hand. »Alles wird gut, Sie werden schon sehen.«
Offenkundig war sie ein bisschen verwirrt. Ich lächelte. »Vielen Dank, das ist gut zu wissen. Sie wohnen in einem wunderhübschen Dorf, und ich werde mich jetzt ein bisschen darin umsehen.« Ich trat einen Schritt zurück, aber ihr Griff verstärkte sich.
»Wenn Sie finden wollen, was Sie suchen, müssen Sie eine Reise machen«, drängte sie. »Und was Sie finden, wird nicht das sein, was Sie eigentlich suchten. Es wird« - und dabei strahlte sie mich an, als spendete sie mir soeben den Segen aller Engel des Himmels auf einmal - »es wird wunderbarer sein als alles, was Sie sich je vorgestellt haben; es wird Ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen. Doch wenn Sie hierbleiben, wird Ihr Schicksal Sie einholen. Annie Badcock lügt nicht.« Eine Wolke trieb über die Sonne, und die Alte löste abrupt die Verbindung zwischen uns. »Ja, sie waren hier.« Sie zwinkerte mir zu. »Sie kamen über
den Ozean und nahmen sie mit. Die Leute haben es vergessen. Sie vergessen alles, was wichtig ist. Dabei ist die Vergangenheit stärker, als sie glauben. Sie ist eine große schwarze Flut, die uns eines Tages alle fortschwemmt.«
Damit wandte sie sich ab und humpelte ohne ein Wort des Abschieds oder auch nur einen Blick zurück den Hügel hinab. Ich stand da und starrte ihr verblüfft nach. Hatte sie meine Gedanken gelesen? Oder war sie einfach nur verrückt? Aber vielleicht, so flüsterte mir eine leise Stimme im Hinterkopf ein, vielleicht weiß sie ja wirklich etwas. Annie Badcock. Der Name klang irgendwie vertraut, doch ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gehört hatte.
»Wenn du die Wand zwischen der alten Spülküche und dem Frühstückszimmer einreißt, könntest du die Küche größer und damit auch erheblich heller machen.«
In Alisons Augen funkelte ein Licht. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick in hysterisches Lachen oder Weinen ausbrechen. Vielleicht hatte das Herumstöbern in dem alten Cottage sie daran erinnert, wie sie mit Andrew das Farmhaus renoviert hatte. Doch ihr Kinn war entschlossen gereckt: Sie brauchte ein Projekt, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch, um sich abzulenken. Wir saßen draußen auf der Terrasse des Old Coastguard Hotels und tranken den Rest einer Flasche Rosé, nachdem wir Fisch aus der Gegend und kornische Käsespezialitäten gegessen hatten. Kaum hatte der Kellner die Teller abgeräumt, als Alison anfing, das Tischtuch mit Skizzen und Notizen zu bedecken.
Michael ließ sich von ihr anstecken, nickte und stellte Fragen. »Und du glaubst, das alles könnte man für wie viel schaffen?«
»Sechzehn- oder siebzehntausend. Ich kenne ein paar gute Handwerker hier in der Gegend, und mich könntest du als Projektmanager einsetzen. Ich würde es gern beaufsichtigen.«
»Ich werde mit Anna sprechen, mal sehen, was sie meint. Ich
gebe zu, vernünftig wäre es ja. In diesem Zustand wird wohl kaum jemand das Cottage kaufen wollen.«
»Jedenfalls nicht mit dem ganzen Plunder«, setzte ich hilfreich hinzu.
Er verzog den Mund und wirkte plötzlich zickig und verbiestert. Ich sah den alten Mann vor mir, zu dem er werden würde, wenn die negative Seite seiner Persönlichkeit die Oberhand gewann. Er wandte sich wieder Alison zu und zog die linke Schulter ein wenig hoch, als wollte er mich von der Unterhaltung ausschließen. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mich, doch ich sagte so unbekümmert, wie ich nur konnte: »Ich fahre mit dem Bus nach Penzance. Bis später, Alison. Ich nehme dann ein Taxi.«
»Ach so, okay.« Sie runzelte die Stirn, als erwartete sie eine Erklärung.
»Ich muss noch ein paar Sachen einkaufen«, sagte ich. Sie sollte nicht merken, dass ich mich gekränkt fühlte und aufgewühlt war. Ich stand auf und warf mir die Tasche über die Schulter.
»Willst du dich nicht von mir verabschieden?«, fragte Michael und sah aus,
Weitere Kostenlose Bücher