Die Zehnte Gabe: Roman
nie die Rede gewesen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Beruhte die Geschichte Cornwalls, so wie ich sie gelernt hatte, auf falschen Tatsachen, oder war Cat eine Träumerin, die sich ihre Not und Langeweile in einer frei erfundenen Geschichte von der Seele geschrieben hatte? Im ersten Fall musste ich alles über das Thema herausfinden, was ich konnte. Ich beschloss, mit Alison und Michael das Cottage in Mousehole zu besichtigen und anschließend die Bibliothek von Penzance aufzusuchen, um im Internet und in den dortigen Geschichtsbüchern nach allem zu suchen, was ich über Cornwall zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts finden konnte.
Ein Gedanke ging mir unablässig im Kopf herum: Wie wahrscheinlich war es, dass Catherine, die von Sklavenhändlern entführt worden war, ihr Stickmusterbuch und ihre Schreibsachen hatte behalten können, um unter den schwierigen Umständen der Gefangenschaft unter Deck ihr Tagebuch fortsetzen zu können? Und selbst wenn ihr dieses Kunststück gelungen war, wie war das kleine Buch dann in dieses Land zurückgekommen, genauer gesagt, in Alisons Haus, ganz in der Nähe jenes Ortes,
von dem Cat zuvor entführt worden war? Wenn aber die eigene Not Cat veranlasst hatte, sich in die Fantasie zu flüchten, wäre sie durch die Geschichte, die sie geschrieben hatte, die erste Prosaschriftstellerin Englands. Immerhin war sie Daniel Defoe um fast ein Jahrhundert voraus. Beide Möglichkeiten machten das Buch zu einem wertvollen Gegenstand, und deshalb war ich noch entschlossener als zuvor, es um jeden Preis von Michael fernzuhalten.
Wir parkten am Rand des Dorfes, folgten der kurvenreichen Hauptstraße und schrien vor Begeisterung auf, als wir um eine Ecke bogen und plötzlich im weitläufigen, sonnenüberfluteten Hafen der Stadt standen.
»Unglaublich!« Michaels Augen glänzten, als er die vielen Cottages auf den steilen Hügeln um die Bucht und die kleinen, bunt angestrichenen Boote sah, die innerhalb der schützenden Kaianlage auf und ab schaukelten.
Wenn man sich die Autos und Jachten, die Straßenlaternen und Touristen wegdachte, war es ein Anblick, der sich im Verlauf der Jahrhunderte nur wenig verändert hatte. Es gab nicht mehr viele Orte wie diesen auf der Welt, und die meisten hatten eine Menge von ihrem Zauber verloren, doch Mousehole schien sich etwas von der unbeschwerten Heiterkeit eines Dorfes bewahrt zu haben, in dem die Bewohner ihrem eigenen Leben nachgehen und die Touristen kommen und gehen sehen wie die Gezeiten. Vor dem Gemüsehändler hatte jemand eine Tafel am Geländer angebracht und in großen, unsicheren Lettern mit Kreide darauf gekritzelt: »Alles Gute zum 73. Geburtstag, Alan!« Einige ältere Frauen, die offensichtlich zum selben Friseur gingen - einem, der sich auf einen einzigen Stil von Dauerwelle in Form eines grauen Helms kapriziert hatte -, standen an der Bushaltestelle und tratschten. Als wir vorbeikamen, hörte ich eine sagen: »… und er stand auf und ging runter zum Boot, ohne auch nur zu merken, dass sie tot war.« Aus irgendeinem
Grund kicherten die anderen nur, als wäre diese Art von Schrulligkeit typisch für die Männer hier.
»Es ist da oben«, erklärte Michael, nachdem er eine von Hand gezeichnete Karte studiert hatte. Selbst von da, wo ich stand, konnte ich sehen, dass es Anna gewesen sein musste. Anna war genau die Richtige, um Karten zu zeichnen - sauber, präzise, peinlich genau. Hätte sie zu Zeiten Magellans die Weltmeere kartografiert, hätte es keine fantastischen Ungeheuer gegeben, die sich aus der Tiefe schlängelten, keine Drachen, keine Meerjungfrauen oder andere unnötige Schnörkel, nur den Terminus »Offene Gewässer«. Vermutlich hatte genau dieser Mangel an Fantasie es Michael ermöglicht, seine verbotene Affäre mit mir über so lange Zeit aufrechtzuerhalten.
Die Straße, die den Hügel hinaufführte, war zu schmal für den Autoverkehr. Stattdessen hatten die Leute sie mit einer Vielzahl von Blumenkästen und bizarren, prähistorisch anmutenden Pflanzen geschmückt, die aussahen wie riesige schwarze Rosetten mit fleischigen Blättern. Vor einem besonders exzentrischen Haus stand die Hälfte eines alten Boots mit sauber aufgereihten Geranientöpfen auf den Ruderbänken. Annas Cottage war weiß gekalkt und hatte verblichene blaue Fensterläden. Möwenkot verschmierte die Fenster, und auf dem Dach wuchs Vogelmiere, aber es war bezaubernd.
Doch die Vorfreude war von kurzer Dauer. Im Innern war es dunkel,
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