Die Zehnte Gabe: Roman
als fühlte er sich plötzlich übergangen.
»Ich hatte den Eindruck, wir hätten uns schon verabschiedet«, antwortete ich kühl und spürte seinen Blick auf mir, als ich ging.
Eine halbe Stunde später saß ich abgeschirmt im ersten Stock der örtlichen Bibliothek vor einem uralten PC und einer wackligen Internetverbindung. Ich googelte »Barbarei Piraten Cornwall« und wartete. Wenige Sekunden, nachdem ich auf die Suchtaste geklickt hatte, spuckte das Programm mehr als zwölftausend Einträge aus, die diese unwahrscheinliche Kombination enthielten. Ich suchte mir wahllos einige aus und hatte innerhalb kürzester Zeit das Gefühl, in einem alternativen Universum gelandet zu sein. Unter der Oberfläche der Welt, die ich kannte, war eine längst vergangene Geschichte begraben.
Mehreren Quellen zufolge - Universitäten, Amateurhistorikern, offiziellen Unterlagen und Berichten von einzelnen Überlebenden - wurden zwischen Anfang des sechzehnten und Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehr als eine Million Europäer von nordafrikanischen Piraten entführt und versklavt. Das war nur ein Bruchteil der geschätzten zwölf Millionen Afrikaner, die entführt und in Amerika als Sklaven verkauft worden waren, doch immer noch eine erstaunlich hohe Zahl. Zwischen 1610 und 1630 hatten Cornwall und Devon etwa ein Fünftel ihrer Schiffe an die Korsaren verloren. Allein im Jahr 1625 waren mehr als tausend Seeleute und Fischer aus Plymouth und von den Küsten von Cornwall und Devon entführt und als Sklaven verkauft worden. Der Bürgermeister von Bristol berichtete von einer Flotte der Barbaren, die Lundy Island erobert und dort den Islam eingeführt hatte. Die Seeräuber bauten die kleine Insel im Kanal von Bristol zu einem befestigten Stützpunkt aus, von dem aus sie die schutzlosen Dörfer im Norden von Cornwall und Devon überfielen. Man nannte sie die Freibeuter von Sallee, weil sie vom muselmanischen Salé aus operierten, einer Stadt in Marokko, gegenüber von Rabat. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von unzufriedenen Piraten aus den verschiedenen Seefahrernationen Europas gehörte ebenfalls dazu. Sie hatten sich inmitten der einheimischen Berber, Araber, Juden und Morisken niedergelassen - aus dem katholischen Spanien verbannte Moslems, wo viele ihrer Familien seit Generationen ansässig gewesen waren. In den Barbareskenstaaten fanden diese Europäer Kämpfer, die darauf brannten, sich an der christlichen Welt zu rächen, die sie verfolgt hatte. Diese Männer verfügten über die finanziellen Mittel, den Verstand und den Willen, um den Seekrieg bis an die Küsten des Feindes zu tragen, einen Krieg, den die herrschenden Mächte sanktionierten und absegneten, weil er nicht nur aus Habgier, sondern auch aus religiösem Eifer geführt wurde.
Einer der erfolgreichsten Seeräuber war ein Engländer namens
John Ward gewesen, der kurz nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Spanien durch Jakob I. zum Renegaten geworden war, weil er sich des Rechts beraubt sah, die spanische Schatzflotte anzugreifen. Ward wurde Admiral der Flotte von Salé und schwor, »Feind aller Christen zu werden, ihre Schiffe zu verfolgen und ihren Reichtum zu mindern«. Er zog nach Afrika, konvertierte zum Islam, nahm den Namen Yussuf Raïs an und begann, die Einheimischen in der Kunst der Navigation und im Umgang mit schnellen Segelschiffen auszubilden. Ein besonders tollkühner Korsarenanführer namens Jan Janz, ein Holländer, der den muselmanischen Namen Murad Raïs angenommen hatte, war offensichtlich von Salé bis nach Island gesegelt und hatte dort vierhundert Gefangene aus der Hafenstadt Reykjavik entführt, um sie auf den Sklavenmärkten der Barbaren zu verkaufen, wo sie wegen ihrer milchweißen Haut und ihres strohblonden Haars einen besonders guten Preis erzielen würden.
Ich fand einen Hinweis auf den Brief eines Bürgermeisters von Plymouth vom April 1625, in dem er dem Kronrat berichtet, er habe mit einem Augenzeugen gesprochen, der eine Flotte (»dreißig Segelschiffe«) aus dem Hafen von Salé in Marokko habe auslaufen sehen. Sie hätte Kurs auf unsere Küsten genommen, um Sklaven zu fangen. Offensichtlich hatten die damaligen Behörden nicht auf die Warnung reagiert.
Beim letzten Link, den ich anklickte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ein libanesischer Historiker, der sich auf diese Zeit spezialisiert hatte, zitierte geschichtliche Quellen und beschrieb, wie im Sommer 1625 Korsaren aus Salé »etwa sechzig Männer,
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