Die Zehnte Gabe: Roman
Augenwinkeln, und sofort schluchzte auch Alison los. Sie umarmte mich. »Es tut mir so leid. Gott, jetzt heulen wir alle beide.«
Ich lächelte ihr unsicher zu und riss mich zusammen. »Sorry, ich bin einfach zu rührselig. Es ist bloß eine blöde Affäre, die ich nie hätte anfangen sollen. Aber das habe ich mir wenigstens selbst eingebrockt, du hingegen -«
Sie schwenkte die Hände. »Hör auf.« Dann holte sie tief Luft. »Hör mal, meinst du nicht, es könnte dir helfen, das Ganze abzuschließen, es ein für alle Mal zu beenden?«
»Nein, wirklich, ich bin noch nicht so weit.«
»Ehrlich gesagt, ich glaube, Michael auch nicht. Er redet die ganze Zeit von dir, wenn du nicht dabei bist.«
Mein verräterisches Herz machte einen Satz.
»Ach ja, und dann fragte er noch nach dem kleinen Stickereibuch, und ob du es wohl schon aus hättest. Er scheint zu glauben, dass es wertvoll sein könnte.«
»Falls das stimmt, solltest du es zurückbekommen, Al.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat es dir geschenkt. Es gehört dir, Julia, ehrlich. Und gib es ihm ja nicht, ohne eine Quittung zu verlangen, okay?«
Ich grinste. »Weil wir alle wissen, was für eine ehrliche Haut Michael ist? Weißt du, Al, ich sollte wirklich bald nach London zurück, schon, um im Laden nach dem Rechten zu sehen und endlich wieder auf die Beine zu kommen.«
Alison zuckte mit den Schultern. »Du musst wissen, was das Beste für dich ist.« Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Es ist wirklich schön, dich hierzuhaben, Julia. Ich bin dir sehr dankbar.«
»Und ich bin froh, dass ich kommen konnte«, sagte ich und meinte es auch so.
»Eines Tages wird alles wieder gut. Ich meine, es muss doch einen Grund für das alles geben, oder? Es gibt Tage, an denen ich glaube, dass irgendwo da draußen ein riesiger Plan existiert wie eine Art Teppich, in den wir alle eingewoben sind - dieses fabelhafte, komplexe Muster von Leben und Tod, voller immer wiederkehrender Muster und Farben, und jeder von uns ist nur ein winziger Faden im Gewebe. Und dann wiederum gibt es Tage, an denen ich weiß, dass wir ganz allein auf der Welt sind und alles ein schreckliches Chaos ist, an dem wir selbst schuld sind.« Sie seufzte. »Andererseits passieren die verrücktesten Zufälle. Ich meine, es ist doch komisch, dass Andrew diese Bücher an Michael geschickt hat, und eins davon handelt vom Sticken, also genau deinem Ding, es enthält dieses Tagebuch, und Michael sieht es und denkt an dich. Ganz zu schweigen davon, dass Catherine nicht einfach aus Cornwall, sondern genau von hier, von Kenegie stammt. Es gab jede Menge altes Gerümpel aus Kenegie auf dem Dachboden, weißt du, alles Mögliche, Krimskrams, Bücher, kaputte Möbelstücke. Wahrscheinlich haben sie es einfach hier abgeladen, als das Herrenhaus renoviert wurde, und dann hat es jahrhundertelang hier vor sich hin geschimmelt.«
»Hmmm«, sagte ich und fühlte mich unbehaglich. »Synchronizität, schätze ich.«
»Hast du schon weitergelesen? Arbeitet sie immer noch an dem Altartuch für Salisbury? Glaubst du, dass sie es je beendet hat?«
»Das werden wir vermutlich nie erfahren.«
»Na schön. Was hältst du von einem Spaziergang zum Herrenhaus, und wir schauen uns an, wo sie gelebt hat? Bevor du nach London zurückfährst?«
Zögernd stimmte ich zu.
Am Ende des Nachmittags wünschte ich, dass ich es nicht getan hätte. Der Besuch des Herrenhauses von Kenegie war eine entsetzliche Erfahrung gewesen. Alison hatte mir erzählt, dass es zu einem Ferienparadies umgebaut worden war, doch ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht, was das bedeutete, und deshalb war der Anblick Dutzender von hässlichen kleinen Bungalows und Chalets, die dicht an dicht in Lady Harris’ ehemals berühmten Gärten und Obstgärten standen, einfach nur niederschmetternd. Dazu kamen die grellen Primärfarben des Kinderspielplatzes, der riesige Parkplatz, der moderne Anbau mit Swimmingpool und Ständer voller Informationen und Faltblättern, die die Feriengäste zu einer Unzahl von reißerischen Attraktionen einluden - imposanten Häusern mit tropischen Schmetterlingssammlungen, Teddybärausstellungen, Kuschelzoos und Miniatureisenbahnen. Es sah so aus, als würde Cornwalls gesamtes Erbe auf gleich dämliche Weise vermarktet. Neben dem Anbau erhob sich das eigentliche Herrenhaus. Die hohen Tudor-Schornsteine waren mehr oder weniger das Einzige, was unverblümt auf seine Herkunft verwies. Das Gemäuer aus Granit war erneuert und
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