Die Zehnte Gabe: Roman
hingehörten. Meine Gemälde hingen noch an den Wänden, mein alter Laptop stand an seinem Platz, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die paar Schmuckstücke mitgehen zu lassen, die meine Mutter mir vererbt hatte.
Erneut runzelte ich die Stirn. Alles in allem kein besonders erfolgreicher Einbruch.
Als mir endlich klar wurde, was hier geschehen war, gaben meine Beine nach, und im nächsten Moment landete ich auf meinem afghanischen Teppich.
Michael war hier gewesen. Er hatte den Schlüssel benutzt, den ich ihm vor sechs Jahren gegeben hatte. Er hatte sich diesen unverzeihlichen Übergriff erlaubt, nicht gefunden, was er gesucht hatte, und dann die Dreistigkeit besessen, mir nach Cornwall zu folgen. Was für ein hinterhältiger Dreckskerl!
Mir war schlecht. War Catherines Buch wirklich so wertvoll? Und wenn ja, warum hatte er es mir dann überhaupt geschenkt? Und was würde er als Nächstes tun, wenn er herausbekam, dass ich nach London zurückgefahren war? Befand ich mich in Gefahr? Würde er Gewalt anwenden, um an das Buch zu kommen? In diesem Moment wurde mir klar, dass ich den Mann, mit dem ich sieben Jahre lang geschlafen hatte, kein bisschen kannte.
Ich rief Alison an.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich halte sie hier fest.
Sie hatten ohnehin geplant, ein paar Wochen zu bleiben. Damit hast du eine Atempause. Wenn Michael abreist, rufe ich dich an.«
Die nächsten vierzehn Tage verbrachte ich damit, gründlich meine Wohnung zu putzen, zum ersten Mal, seit ich sie gekauft hatte. Am Ende hatte ich fünfzehn Müllsäcke mit allem möglichen überflüssigen Kram weggeworfen und fühlte mich auf seltsame Art geläutert, als hätte ich eine Katharsis hinter mir. Danach setzte ich die Wohnung in die Zeitung und übergab den Schlüssel einem Makler. Dort wollte ich nicht mehr leben.
Ich zog in eine Mietwohnung in Chiswick, verkaufte den Pachtvertrag für den Laden an eine junge Frau, die gerade Examen am St. Martin’s College gemacht hatte und ein Geschäft suchte, um ihre herrlich verrückte Designermode zu verkaufen, und mein Lager (besser gesagt, die kümmerlichen Reste davon) an eine Frau, die ich im vergangenen Jahr auf einer Kunsthandwerksmesse kennen gelernt hatte.
Anschließend fühlte ich mich auf absurde Art wurzellos und leichtsinnig, fuhr zu Stanford’s auf der Long Acre und kaufte sämtliche Marokkoführer, die sie vorrätig hatten.
Am Abend vor dem Abflug bekam ich plötzlich kalte Füße und rief Alison an.
»Hör zu, ich fliege morgen nach Marokko. Ich dachte, irgendwer sollte es wissen, falls mir etwas zustößt.«
Am anderen Ende der Leitung breitete sich schockiertes Schweigen aus. »Willst du etwa allein dahin?«, fragte sie ungläubig.
»Äh, ja. Aber ich wohne in einem reizenden Hotel, einem riad - es gehörte früher einem Kaufmann aus der Hauptstadt Rabat.« Dann gab ich ihr die Adresse und Telefonnummer. Ich hatte mich lange mit der Frau unterhalten, die es führte. Sie sprach fließend Französisch, was meine paar Brocken Schulfranzösisch
bis an seine Grenzen und darüber hinaus strapazierte. Doch Madame Rachidi war sehr beruhigend und hilfsbereit gewesen. Es gebe einen Führer, hatte sie gesagt, der mich begleiten könne, wenn ich mir die Stadt ansehen wollte. Ihr Cousin Idriss sei ein gebildeter Mann, der sich bestens mit der Geschichte der Gegend auskannte und ausgezeichnet Englisch sprach. Das bedeutete, dass ich vor »unerwünschten Aufmerksamkeiten« geschützt wäre, wie sie es ausdrückte. Eigentlich wusste ich nicht recht, was sie damit gemeint hatte.
»Aber Julia, es ist ein moslemisches Land. Du kannst unmöglich allein fliegen.«
»Warum denn nicht?«
»Es ist gefährlich. Die Männer da drüben, nun ja, wenn sie eine allein reisende Frau aus dem Westen sehen, glauben sie, dass sie leicht zu haben ist, dass sie es geradezu darauf anlegt. Es ist eine Kultur, in der Sexualität unterdrückt wird. Die Frauen laufen verschleiert herum, und Sex vor der Ehe steht unter Strafe - westliche Frauen müssen den marokkanischen Männern wie Prostituierte erscheinen, weil sie alles zur Schau stellen, was sie haben. Und obendrein bist du blond -«
»Jetzt hör aber auf«, fuhr ich sie an. »Du klingst ja wie die Daily Mail . In meinem Führer steht, dass man sich vernünftig kleiden und nicht so viel Haut zeigen sollte. Madame Rachidi sagt, es sei überhaupt kein Problem.«
»Na klar, was soll sie sonst sagen? Sie ist scharf auf dein reizendes englisches
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