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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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frisch verfugt worden, Fenster und Türen ersetzt, und da, wo einst der Irrgarten gewesen war und Kräuter wuchsen, gab es jetzt einen asphaltierten Hof. Das große Reklameschild eines Immobilienmaklers am Straßenrand hatte voller Stolz verkündet, dass das als bedeutende Sehenswürdigkeit eingestufte Herrenhaus momentan in moderne Luxus-Apartments umgewandelt wurde. Darunter stand eine Telefonnummer, unter der man Besichtigungstermine vereinbaren konnte.
    »Wir könnten dort anrufen und uns als potenzielle Käufer ausgeben«, schlug Alison vor.
    Ich schüttelte müde den Kopf. »Nein danke.« Ich war schon bedrückt genug. Wie konnte man einem historischen Gebäude so etwas antun? Wie konnte die örtliche Baubehörde zulassen, dass einer der größten Schätze, die die Grafschaft zu bieten
hatte, dermaßen verschandelt wurde? Das fragte ich auch Alison.
    »Wahrscheinlich hat man im Lauf der Jahrhunderte so viel daran herumgedoktert, dass es nichts mehr zum Erhalten gab«, sagte sie achselzuckend. Dann streckte sie den Kopf durch die offene Eingangstür. Entferntes Hämmern hallte durch die Gänge. Es folgte das Geräusch von Stiefeln auf rohen Holzbrettern, und plötzlich stand ein Mann mit gelbem Helm und Overall vor uns. Er hatte einen Tischlerhammer in der Hand.
    »Hallo«, sagte er. »Sind Sie wegen einer Besichtigung hier?« Er spähte über unsere Schultern. »Ist der Makler nicht mitgekommen?«
    »Wir haben einen Termin für später«, log Alison frech, »aber wir dachten, wir kommen lieber etwas früher und schauen uns schon einmal um. Sie wissen ja, wie Makler sind, sie führen einen möglichst schnell an allem vorbei, was unangenehme Fragen aufwerfen könnte.«
    Beide lachten verschwörerisch.
    »Na, dann kommen Sie doch rein«, antwortete der Handwerker. »Schauen Sie sich um. Es gibt hier nichts, was sich zu stehlen lohnte. Es sei denn, Sie haben es auf akkubetriebene Bohrmaschinen abgesehen.« Er gluckste in sich hinein, winkte uns durch und stapfte dann davon, um irgendeinen anderen Teil des Hauses zu zertrümmern.
    Vorher war ich niedergeschlagen gewesen, mittlerweile fühlte ich mich endgültig ernüchtert. Was konnte von Cat und ihrem Leben im siebzehnten Jahrhundert zwischen all diesen neuen Gipsplatten und Kabeln, eimerweise weißer Binderfarbe und Telefonleitungen überlebt haben? Es gab keine Spur mehr von früheren Bewohnern. Trotz meiner blühenden Fantasie konnte ich mir die Schatten von Sir Arthur und Lady Harris zwischen Sisal-Teppichboden und Doppelverglasung, Robert Bolitho und Jack Kellynch auf den sterilen gepflasterten Wegen oder Matty und Nell Chigwine zwischen dem seelenlosen Melamin
und rostfreiem Stahl von fünfzehn völlig identischen Küchen nicht vorstellen. Hier würde keine alte Zigeunerin mehr an der Tür zum Salon aufkreuzen, um sich eine Silbermünze und eine Schale Weizenbrei zu erbetteln, oder was immer das moderne Gegenstück dazu war.
    So folgte ich Alison traurig von einem Raum zum anderen, und dabei wurde mir eins von Minute zu Minute klarer: Wo immer die Seele von Catherine Anne Tregenna ruhen mochte, hier war sie nicht.
     
    In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Es war unvermeidlich nach all dem Aufruhr an diesem Tag. Keines der Bilder, die mir im grauen Licht des Tagesanbruchs noch im Kopf waren, lösten die Probleme, die vor mir lagen. Im Gegenteil, sie schienen sie noch zu vergrößern. Anna stand in einem Kapuzenumhang vor mir, in der Hand ein großes gebogenes Messer, von dem das Blut tropfte. Leute schrien mich in einer Sprache an, die ich nicht verstand. Es stank nach Verbranntem. Michael, der mich um sein Leben anflehte. Nach einer Weile döste ich wieder ein, kehrte in den Traum zurück, kam abermals hoch, versank erneut darin, und als ich endlich ganz erwachte, hatte ich das Gefühl, als lastete eine schwere Bürde auf mir.
    Alison klopfte an der Tür. »Alles in Ordnung? Es ist schon spät, nach zehn.«
    »Verdammt!«
    Ich hatte vorgehabt, den ersten Zug nach London zu nehmen, der von Penzance aus fuhr. Doch letztlich waren wir erst um die Mittagszeit am Bahnhof. Als wir auf dem Bahnsteig standen und zusahen, wie die Passagiere des gerade eingetroffenen Zuges aus London ausstiegen und sich durch die Gruppen von wartenden Freunden und Angehörigen kämpften, sagte Alison plötzlich: »Ist das nicht Anna?«
    Mir rutschte das Herz in die Hose. Aus einem Abteil erster Klasse stieg eine dunkelhaarige Frau mit einem teuren maßgeschneiderten
Jackett und

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