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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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gerade geschnittenen Jeans, die nahtlos in ein Paar glänzender, hochhackiger brauner Stiefel übergingen. Trotz der sich abzeichnenden Gefahr, dass die Situation jeden Augenblick explodieren könnte, fiel mir auf, wie sehr ich ihren unkomplizierten Stil bewunderte.
    Dann machte ich auf dem Absatz kehrt, um zu flüchten.
    Alison packte mich am Arm. »Hör zu, du stehst das jetzt durch. Was ist schlimmer, Hallo zu sagen und fünf Minuten auf einem Bahnsteig herumzustehen, in der Gewissheit, dass du jederzeit einsteigen kannst, oder den Rest deines Lebens damit zu verbringen, ihr aus dem Weg zu gehen?«
    Sie hatte nicht ganz Unrecht, obwohl ich nicht einsah, warum wir uns nicht einfach ins Bahnhofscafé verziehen und warten konnten, bis sie weg war. Das sagte ich auch. Alison verzog nur das Gesicht. »Sei nicht blöd. Wahrscheinlich würde sie dich ohnehin sehen, und dann wüsste sie, dass du ihr aus dem Weg gehst. Und wenn sie glaubt, dass ich dasselbe Spiel spiele wie du, wird sie mir wohl kaum die Renovierung ihres Cottage anvertrauen, oder?«
    Also wartete ich wie ein Opferlamm, wohl wissend, dass meine Hinrichtung unmittelbar bevorstand, und sah die Frau meines Exlovers mit ihrem kleinen silbernen Koffer im Schlepptau auf uns zukommen, ohne dass ihr perfekt geschminktes Gesicht erkennen ließ, ob sie unsere Anwesenheit registriert hatte.
    In den letzten sieben Jahren hatte ich Anna nur unregelmäßig gesehen, aber häufig genug, um ihre wechselnden Schicksalsschläge und Stilrichtungen mitzuerleben und sie in mancher Hinsicht sogar darum zu beneiden. Doch als sie nun auf uns zukam, den Blick auf den Bahnsteig gesenkt, als könnte er vermint sein, wurde mir mit einem schockierenden Schlag klar, wie sehr sie gealtert war. Mit gefärbtem Haar und teurer Kosmetik lassen sich eine Menge Makel verbergen, nicht aber die Spuren eines katastrophalen Lebens. Tiefe Falten hatten sich zu beiden Seiten ihres tadellos geschminkten Mundes eingegraben.
Die Mundwinkel waren herabgezogen: Anna. Sie ging schnurstracks an uns vorbei und trat hinaus in die Sonne, ohne uns zu bemerken, und ich hatte plötzlich das Gefühl, eine zutiefst unglückliche Frau an mir vorbeigehen zu sehen.
    Auf der Heimfahrt dachte ich lange darüber nach. Innerlich wusste ich, dass der Schmerz, den ich in ihrem Gesicht entdeckt hatte, der einer Frau war, die seit Langem weiß, dass ihr Mann sie betrügt, seinen Ehebruch schweigend ertragen hat und die Maske nur fallenlässt, wenn sie allein ist oder in einem unbeobachteten Augenblick, wie ich ihn gerade erlebt hatte. Drei Stunden saß ich da, fuhr durch Exeter, fuhr durch Taunton, während der Zug die uralte Landschaft von Salisbury Plain passierte, und dachte an meine Zeit mit Michael. Ich rief mir seinen Körper ins Gedächtnis zurück, Zoll für Zoll, bekleidet und nackt, entspannt daliegend und erregt. Ich weinte still vor mich hin und presste das Gesicht an die Scheibe, damit niemand es sah. Der Zug rauschte durch Hungerford. Als wir in Reading hielten, hatte ich Michael aus meinem Bewusstsein verdrängt, alle Erinnerungen in eine Schachtel gestopft und sie in irgendeinem verborgenen Winkel meines Bewusstseins begraben.
     
    Nach so langer Zeit in einem fremden Haus ließ ich die Wohnungstür hinter mir zuschnappen und spürte mit einer gewissen Erleichterung, wie mich die vertrauten Schatten und Konturen meiner Wohnung willkommen hießen.
    Ich stellte den Koffer im Schlafzimmer ab und ging in die Küche, um mir eine Tasse Tee zu kochen. Dann schlenderte ich von Zimmer zu Zimmer und machte mich wieder mit meinem Zuhause vertraut. Vielleicht war ich müde und gerädert, vielleicht spielte mir auch mein Bewusstsein einen Streich, denn immer wieder sprangen mir kleine Details ins Auge. Hatte ich wirklich die Sonntagszeitung so unordentlich unter dem Schreibtisch liegen lassen? Hatten die Bücher in den Regalen neben
dem Kamin immer so krumm und schief gestanden? Ich konnte mich nicht daran erinnern, den Karton mit Ordnern da hingestellt zu haben, wo er jetzt stand. Und die Klappe des Sekretärs war offen. Ich runzelte die Stirn.
    Im Schlafzimmer entdeckte ich, dass die Schublade des Nachttischs nicht verschlossen war, der kaputte Verschluss war nicht richtig eingerastet. Es gab einen Trick, aber den kannte nur ich. Jemand war in meine Wohnung eingebrochen.
    Voller Panik rannte ich ins Wohnzimmer, doch die Anlage hatte offenbar niemand angerührt; all die kleinen hochmodernen Silberteile waren da, wo sie

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