Die Zehnte Gabe: Roman
Männer,
Frauen und unschuldige Kinder. Es stellte den Glauben der frömmsten Christenmenschen auf den Prüfstand, und zu denen hatte sie noch nie gehört. Aber Muselmanin war sie auch nicht, was sollte sie also sagen? Am Ende zuckte sie mit den Schultern. »Vermutlich.«
»Dann bist du mein Feind, und ich sage dir, warum. Der Vater des Großvaters meiner Mutter stammte aus Rabat. Er hat es verlassen, weil er keine Arbeit fand, und wanderte in die Berge der Estremadura aus, in eine Kolonie von Mauren in Spanien. Der Großvater und der Vater meiner Mutter wurden dort geboren und dann auch meine Mutter. Vier Generationen lang - du verstehst? - lebte meine Familie in Andalusien, sie arbeitete, trieb Handel und trug zum Reichtum der Gemeinde bei. Mein Vater war Kaufmann, er reiste durch ganz Marokko, brachte Salz, Gold und Elfenbein aus Tafraout im Südwesten an die Nordküste und dann nach Spanien und tauschte es gegen feinen spanischen Stahl, Schwerter und Kanonen. Bei einer dieser Reisen lernte er meine Mutter kennen und machte sie zu seiner Braut. Beim nächsten Besuch heiratete er sie und brachte sie nach Hause, nach Marokko, in die Berge des Atlas, wo ich zur Welt kam. Doch sie hatte Heimweh, vermisste ihre Familie. Sie sprach kein Berberisch, kein Arabisch, nur Spanisch. Als ich fünf Jahre war, zogen wir in die Estremadura zu ihrer Familie. Dann entschied der spanische König Philipp, dass alle Mauren Spanien verlassen mussten, gleichgültig, wie lange sie schon dort lebten oder wie spanisch sie sich fühlten. Einige aus unserer Familie sahen Vorboten der Verfolgung und verließen das Land - mein Onkel, einige Vettern -, sie nahmen alles, was sie tragen konnten, und kehrten zurück nach Marokko. Doch mein Vater war sehr zornig. Er hatte alles nach Spanien gebracht, was er besaß, die Geschäfte liefen gut. Warum sollte er wieder gehen, nur weil er Mohammedaner war? Er weigerte sich, das Land zu verlassen. Man zwang ihm den katholischen Glauben auf, eine große Schande für ihn, aber meine Mutter flehte ihn an,
sie zu ertragen. Sie blieben, doch es wurde immer schlimmer. Man behandelte ihn wie einen Hund, ohne Respekt, er wurde betrogen bei seinen Geschäften. Am Ende kam die Inquisition. In der Nacht holten sie meinen Vater, am nächsten Morgen setzte mich meine Mutter auf ein Maultier und schickte mich den Bergpfad hinab zu meinen Vettern, die nach Marokko aufbrachen. Ich verließ sie, alle meine Schwestern weinten. Sie waren noch klein. ›Wir kommen nach‹, versprach meine Mutter, aber ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Den ganzen Weg hinunter vom Berg weinte ich. Seitdem habe ich nie wieder geweint.«
Cat riss die Augen auf. »Und habt Ihr sie wirklich nie wiedergesehen?«
Er schluckte. »Ein ganzes Jahr hörte ich nichts von meiner Familie. Ich war mit einem Vetter nach Slâ gegangen, dort lebten zwei Onkel und andere Vettern. Ich wartete auf meine Mutter, meinen Vater und die Schwestern, aber sie kamen nicht. Eines Abends sagte mein Onkel: ›Komm mit. Ich habe von einem Mann gehört, er ist ein spanischer Gefangener.‹ In der Kasbah von Slâ war ein Schiff mit neuen Gefangenen angekommen. Der Mann war ein Schmied aus Hornachos, aber als die Mauren das Land verließen, fand er keine Arbeit mehr und wurde Soldat. Er sagte, die Inquisition hätte meinen Vater zu Tode gefoltert. Man hatte ihm die Arme aus den Gelenken gerissen und ihn in der Gefängniszelle verenden lassen.« Er schloss die Augen. Ein winziger Muskel in seiner Wange zuckte.
Als Cat den Blick senkte, merkte sie, dass ihre Fingerknöchel weiß waren, so fest hielt sie den Rock ihres Gewands umklammert. Aus lauter Angst vor dem, was er antworten könnte, traute sie sich nicht, die Frage zu stellen, die ihr auf der Seele brannte.
»Die Soldaten kamen und holten den Rest meiner Familie ab, zwei Tage nach meinem Vater. Sie schändeten meine Mutter und töteten meine Schwestern. Meine Mutter starb an Schande
und Kummer. Ich war zehn Jahre alt. Meine Schwestern zwei, vier und sieben. Besser, ich wäre geblieben und hätte sie verteidigt … Der Schmied hatte alles gesehen. Er erzählte, wie er versucht hätte, seine Kameraden abzuhalten, aber ich wusste, das war gelogen. Mein Onkel gab mir ein Messer, damit ich ihn töte. Er war der erste Nazarener, den ich getötet habe, damals war ich elf. Jetzt zähle ich sie nicht mehr. Ich hatte Rache geschworen. Meine Vettern gaben mich in die Lehre des großen Korsaren Yussuf Raïs, eines
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